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Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (GGR) - www.ggr.ro

Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 6. Jg., Heft 1-2 (11-12) / 1997, S. 269-277

 



DAS BUKAREST-BILD IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN GEGENWARTSLITERATUR

Axel Barner

 

“Die größte Obsession dieser Stadt ist der kollektive Glaube,

hinter jeder Bedeutung lägen noch ungeahnte andere Realitäten verborgen.”

(R. Wischenbart, Canettis Angst)


I. Kaum eine andere europäische Literatur sei so international angelegt wie die deutsche, bemerkt der italienische Germanist Battafaramo, denn deutsche Autoren aller Epochen haben “eine beachtliche Reihe ihrer Werke jenseits ihrer sprachlichen, politischen und nationalen Grenzen sowohl topographisch als auch anthropologisch lokalisiert.”
(1) Rom, Venedig, Paris, New York und Istanbul sind genauso selbstverständliche Schauplätze der modernen deutschsprachigen Literatur wie Berlin oder Wien. Umso mehr überrascht es, daß sich eine Teildisziplin unseres Faches, die sich um dieses Phänomen bemüht, - die interkulturelle Germanistik -, erst relativ spät etablieren konnte.

Daß auch Bukarest Schauplatz deutschsprachiger Literatur geworden ist, scheint zunächst überraschend, denn obwohl die Stadt nur zweieinhalb Flugstunden von Deutschland entfernt ist, blieb sie in der Literatur, - aber nicht nur dort -, weitgehend ausgeblendet. Während eines kurzen Zeitraums, in den Jahren um den osteuropäischen Umbruch herum, änderte sich dies allerdings schlagartig, denn die politischen Ereignisse in Rumänien weckten auch das Interesse an der Hauptstadt des Landes.

Die große Zahl der vor allem in den achtziger Jahren von Rumänien in die Bundesrepublik übergesiedelten deutschsprachigen Autoren hatte zudem das Interesse der Öffentlichkeit geweckt und diese durch ihre Bücher für ihr Herkunftsland sensibilisiert. Vor und nach der Wende standen diese Autoren als kompetente Rumänienkenner bereit. Daß ihr Interesse und Engagement für das Land ihrer Herkunft nicht nachgelassen hat, zeigen ihre zahlreichen Reisen in den Jahren nach 1989, über die sie in ihren Texten immer wieder berichten. So konnten eine ganze Reihe von literarischen Texten ermitteln werden, die sich, in den vergangenen zehn Jahren erschienen, mit Bukarest beschäftigen.

Inzwischen hat allerdings, wie der Literaturkritiker G. Csejka beklagt, der “Ost-Elan” nachgelassen:

Das Geschäft mit der ‘Dissidentenaura’ ist nicht mehr rentabel [...] Die Neugier darauf, was sich unter der ‘grauen Einheitsdecke’ des politischen Blocks im Osten an kultureller Eigenart [...] erhalten hat, rührte offenbar von keinem tieferen Interesse her [...] (2)

Die Hinwendung der Leser zu den osteuropäischen Literaturen scheint eine Modewelle gewesen zu sein.

Auch der aus Rumänien stammende Publizist Georg Aescht bedauert dies, wenn er feststellt, daß gerade in einer wichtigen und kritischen politischen Entwicklungsphase in den osteuropäischen Staaten das Interesse Mitteleuropas nachläßt:

Das politische und kulturpolitische Drama dieses Teils von Europa [d. i. Osteuropa] liegt darin begründet, daß der andere Teil sich abwendet, sobald wirkliche Zuwendung jenseits wohlfeiler Sympathiebekundungen gefragt ist. (3)

II. Im Sinne A. Wierlachers, der als Leitziel der interkulturellen Germanistik die Darstellung der “globalen Vielfalt kultureller Andersheiten in der Perspektivik und Gegenstandskonstitution” formuliert (4), versteht sich dieser Aufsatz auch als ein Beitrag dieser Disziplin. Er versucht, den Blick einiger deutschsprachiger Autoren auf eine ihnen - mehr oder weniger - fremde Realität nachzuzeichnen und damit Leitvorstellungen aus einer Vielzahl von verschiedenartigen Charakterisierungen herauszuarbeiten. Dies geschieht, indem diese Leitvorstellungen von Bukarest aus den Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen der schriftstellerischen Bemühungen rekonstruiert werden. Insofern ist diese Arbeit auch ein Beitrag zu einer Forschungsrichtung, die sich Imagologie nennt. Gegenstand der Imagologie sind “images” oder Bilder, “die sich erklären lassen als solche Aussagen, die auf Nationen, Völker und ihre kulturellen und geistigen Leistungen gemünzt sind und diese in ihrer Gesamtheit mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Aussagen typisieren wollen.” (5)

Im folgenden möchte ich zuerst die Texte und die Beziehungen der Autoren zu Bukarest kurz vorstellen. Daran anschließend versuche ich, über die Unterschiede der Texte hinaus gemeinsame Leitlinien, Leitvorstellungen und Motive aufzuzeigen, die das Bukarest-Bild in der neuesten deutschsprachigen Literatur konstituieren. Als Beobachtungszeitraum sollen die letzten zehn Jahre (1986-96) berücksichtigt werden. Dies geschieht im Sinne eines imagologischen Ansatzes, der nicht für sich beansprucht, den Grad der Übereinstimmung zwischen Bild und Realität zu bestimmen.

III. Bei einer ersten Durchsicht der Texte, die in den letzten zehn Jahren über Bukarest erschienen sind, fällt vor allem die Inhomogenität sowohl des biographischen Hintergrunds der Autoren als auch der Texte auf. Neben bekannte Autoren, wie Hans Magnus Enzensberger und Herta Müller, treten so unbekannte wie Rüdiger Wischenbart oder Max Blaeulich; neben den zuletzt genannten österreichischen Autoren stehen ein in der Bundesrepublik aufgewachsener (Enzensberger), aus Rumänien in die Bundesrepublik ausgewanderte (Müller, Schlesak, Söllner, Frauendorfer) sowie der in Rumänien ansässige Wittstock. Ebenso unterschiedlich wie die Biographien der Autoren sind die von ihnen verwendeten Textsorten; sie reichen von der phantastischabsurden Groteske (Blaeulich) über eine science-fiction-hafte Reportage (Enzensberger) bis hin zur subjektiven Form der Tagebuchaufzeichnungen (Schlesak) und im Stil großer Reportagen geschriebene Texte (Müller). Allen diesen gemeinsam sind über ihren Gegenstand Bukarest hinaus bestimmte Elemente eines “images”, das sie von dieser Stadt entwerfen.

Enzensbergers Bukarest ist ein fiktiver Ort, - doch das Interessante an diesem Text ist, daß die Vision, 1984 zu Papier gebracht, zumindest teilweise Realität geworden war, als sich der Autor im März 1990 zum ersten Male in der Stadt aufhielt. (6) Enzensberger hatte im Stil einer science-fiction-haften Reportage die Stadt bereits vor dem Umbruch beschrieben: Im Jahre 2006 trifft der amerikanische Reporter Taylor auf die veränderte Realität nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Ceauºescu ist von den eigenen Leuten umgebracht worden, und ausländische Investoren schaffen aufgrund ihrer hohen Profite eine Goldgräberstimmung in der Stadt.

Der Text Bukarest ist dem Epilog des 1987 erschienen Bandes Ach, Europa! (7) entnommen, der Reportagen des Autors aus sieben Ländern vereint, die zuvor in loser Folge in den Jahren 1982-85 in der Wochenzeitschrift Die Zeit erschienen waren. Lediglich der Epilog Böhmen am Meer ist als Erstveröffentlichung in Gestalt fiktiver Zeitungsberichte hinzugekommen. Die imaginären Reportagen führen den Leser über Ramstein, Den Haag, Helsinki und Berlin nach Bukarest und weiter nach Prag.

In seinem Fragment Mauer los (8) berichtet Dieter Schlesak über Enzensbergers Bukarest-Besuch im März 1990:

18. März. Abends Enzensberger Lesung im Goethe-Institut. Enzensberger hat einen Spürsinn für Dinge, die im Kommen sind; er hatte im Goethe-Institut einen Text aus Ach, Europa! gelesen. Im Orwell-Jahr 1984 geschrieben, war dieser Text bisher reine science-fiction: die Hinrichtung Ceausescus und die Amerikanisierung Rumäniens. Literatur als Unterbewußtsein der Zeit, Sensorium für das Mögliche [...] (9)

Dieter Schlesak bereiste Rumänien in den letzten Jahren mehrfach. Die erste seiner Reisen nach der Wende, im März 1990, führte ihn über Siebenbürgen, der Landschaft, in der er geboren wurde und auswuchs, auch nach Bukarest, wo er in den sechziger Jahren als Redakteur der Neuen Literatur tätig war. Seine Bukarest-Texte sind als Ergebnis aus diesen Reisen entstanden. Der Text Totalitäre Schuld (10) findet sich in dem 1991 erschienenen umfangreichen Essay Wenn die Dinge aus dem Namen fallen. Schlesak weist darin auf die epochale Bedeutung des Zusammenbruchs des Kommunismus hin und beschreibt die Ereignisse des Dezember 1989 sowohl aus der Sicht der Betroffenen, indem er diese zitiert, als auch aus der Sicht des Westeuropäers. Seine Reflexionen kreisen um die Fragen der Schuld, der Schuldverdrängung und der Möglichkeiten eines Aufbruchs in eine neue Zeit. Er analysiert die Gründe für die Überwindung der Angst im Moment des Umsturzes und die Funktion und Rolle des Fernsehens während der Dezembertage:

Doch die Revolution am Ende der Zeit enthält auch ihre eigene Negation, als Telerevolution und Medienbetrug. Stand das Fersehen nicht nur im Dienste der Revolutionäre, wurde heimlich Werkzeug jener Clique von Nomenklatura, Securitate und Militär, die den Staatsstreich vorbereitet hatte? (11)

Ein weiterer Text zu Bukarest vom selben Autor findet sich in dem als Tagebuch angelegten Werk Stehendes Ich in laufender Zeit (12), in dem der Autor aus explizit subjektiver Sicht über die Ereignisse nach der “Zeitenwende” referiert und reflektiert. Mit dieser persönlichen Chronik der Jahre 1989 bis 1993 beobachtet Schlesak die Vorgänge aus einer weniger distanzierten Perspektive als in seinem Essay. Der Leser begleitet hier den Autor durch die Stadt, zu Orten und Plätzen, die er aus früheren Zeiten kennt, und auf Besuchen bei alten Freunden und Bekannten. Schmerzlich bewußt werden dem Autor die Erinnerungen an Vergangenes, an Fehler, Versäumnisse und die eigene Schuld, während die Menschen, die er wiedertrifft, über ihre Enttäuschungen und Hoffnungen nach dem Ende der Diktatur berichten.

Schlesak, Söllner, Müller und Frauendorfer verbindet nicht nur ihre Herkunft aus der deutschen Minderheit Rumäniens, sondern auch eine ähnliche Biographie, die auf ihr Schreiben immer noch einen großen Einfluß hat. Alle vier Autoren verließen Rumänien, weil ihnen der politische Druck unerträglich geworden war, Schlesak bereits 1969, Söllner 1982, Müller und Frauendorfer 1987. Obwohl sie also bereits seit Jahren in Deutschland leben, bleibt für sie das Land, das sie verließen, weiterhin ein zentrales Thema. Wie beinahe alle aus Rumänien in die Bundesrepublik übergesiedelten Autoren hängen sie mit engagierter Distanz und einem gebrochenen Verhältnis an ihrer Herkunft und begleiten dessen politische Entwicklung mit wohlwollender Kritik. Dieser heimatlose Schwebezustand, diese ortlose Zustandserfahrung” (13) wird von ihnen immer wieder beschrieben. So finden sich in Söllners Gedichtband Kopfland. Passagen (14) Titel wie die folgenden: "Nirgendwärts", "Jenseits leben" und "Notausgang", und Dieter Schlesak hat für seine Situation die Bezeichnung eines “Zwischenschaftlers” (15) gefunden. Herta Müller, in einem Interview danach gefragt, warum sie nicht von ihrem Thema Rumänien ablasse, gibt zu Protokoll, daß nicht sie es sei, “die von dem Land nicht ablasse, sondern das Land lasse sie nicht los.” (16) Sie sei in der neuen Umgebung “angekommen wie nicht da.” (17), eine Reisende auf einem Bein (18), wie der Titel ihres dritten in Deutschland erschienen Prosabandes lautet.

Werner Söllner gehört zu der Generation jener jungen Schriftsteller, deren Schaffen für viele den letzten, für manche auch den einzigen Höhepunkt rumäniendeutscher Literatur bezeichnet: Anfang der siebziger Jahre trafen einige Studenten des Temeswarer Germanistiklehrstuhls zusammen, deren Texte später auch im binnendeutschen Raum von einer größeren Leserschaft zur Kenntnis genommen wurden. Richard Wagner, William Totok, Ernest Wichner, Johann Lippet, Rolf Bossert und andere bildeten einen literarisch sehr produktiven Kreis, den sie “Aktionsgruppe Banat” nannten.

Mit Gleichgesinnten - schreibt Richard Wagner, gründete ich 1972 die ‘Aktionsgruppe Banat’. Sie sollte literarisch und politisch sein. Ideen des Prager Frühlings und der Frankfurter Schule stürzten in die labyrinthischen Formen der Wiener Gruppe, Bertold Brecht traf sich mit Rolf Dieter Brinkmann, Volker Braun mit Helmuth Heißenbüttel. Wir wurden naturgemäß mißverstanden. Nicht nur vom Staat, sondern auch von den Landsleuten. Es war unerhört, was wir taten, und wir hatten Spaß daran [...] Wir lebten die Provokation. [...] Ästhetik war Spaß und Provokation (19) und Spaß. Vieles von dem, was die ‘Aktionsgruppe’ in den frühen siebziger Jahren machte, ist nicht dokumentiert und ist auch nicht zu beschreiben. Es war einfach nichts Haltbares. Und das war das Neue in dieser Minderheit (20).

Werner Söllner, obwohl nicht in der Aktionsgruppe Banat, gehörte zu dem Freundeskreis um Wagner und Bossert: Er hatte in Klausenburg/Cluj studiert und arbeitete danach als Lehrer, später als Verlagslektor in Bukarest. Er verließ Rumänien und lebt seit Anfang der achtziger Jahre in der Bundesrepublik. Wie die andren Autoren der Gruppe hat Söllner seine “geteilte Existenz” zwischen zwei Welten immer wieder thematisiert.

Söllners Bukarest-Impressionen (21) erschienen 1993 im FAZ-Magazin und gehen auf einen Besuch im Jahre 1992 zurück. Mit Sympathie und Verständnis, nicht jedoch ohne kritische Untertöne, beschreibt er die Stimmung in der Stadt nach den Wahlen im Herbst 1992. Die Reportage ist eine Momentaufnahme in einer schwierigen Situation: Inflation, Knappheit an Konsumgütern, erste Massenentlassungen und der Niedergang der vormals vom Staat subventionierten sozialen und kulturellen Einrichtungen schufen ein Klima der Unsicherheit und des Mißtrauens: “Die Revolutionsromantik aus dem Dezember 1989 ist verschwunden [...]” (22) - aber auch die lähmende Stille, die Schlesak bei seinem Besuch im März 1990 beobachtete.

Herta Müllers Prosaband Niederungen, 1982 in Rumänien, 1984 in Deutschland erschienen, war es vor allem, der die deutschsprachige Literatur Rumäniens in das Bewußtsein einer breiteren binnendeutschen Leseöffentlichkeit rückte. Müllers Texte, die die zwischen Da-Bleiben und Wegziehen schwankende deutsche Minderheit empörten, da sie an verdeckten Tabus rüttelten, wurde vom deutschen Literaturbetrieb begeistert aufgenommen. Inzwischen gehört Herta Müller, Kleist-Preisträgerin des Jahres 1994, zu den erfolgreichsten Gegenwartsschriftstellern. Auch ihr Schaffen steht in Verbindung zu den Autoren der ‘Aktionsgruppe Banat’, - Herta Müller traf mit den Autoren der Gruppe in Temeswar/Timiºoara zusammen, wo sie Germanistik und Rumänistik studierte -, und auch ihr Schaffen steht im Zeichen der Fremdheit, Heimatlosigkeit und Unbehaustheit, im Zeichen von Abschied und Trennung.

Der Text ER und SIE. Armut treibt die Menschen an Ceauºescus Grab ist dem Essay-Band Hunger und Seide (23) entnommen, wurde jedoch bereits am 28.12.1993 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publiziert. Die Autorin beschreibt in der poetischen Bildgenauigkeit, die sie berühmt machte, einen Besuch in Bukarest Anfang der neunziger Jahre: “Das kurze Aufatmen nach dem Sturz ist vorbei.” (24) Das Land und die Hauptstadt versinken wieder in ihren alten Erstarrungen, und die Rückkehr der Angst und der alten Erinnerungen an eine entschwunden geglaubte Zeit stellen sich bei einem Besuch auf dem Friedhof ein, wo Nicolae und Elena Ceauºescu “ganz bestimmt, oder wahrscheinlich, oder auf keinem Fall liegen.” (25) Es ist der 6. Dezember, der Nikolaustag, Feiertag für die Kinder und zugleich Namenstag des Diktators. Und während sich die Menschen an seinem Grab versammeln, scheinen die alten Mythen vom guten Vater und weisen Führer seines Volkes wieder lebendig zu werden.

Helmuth Frauendorfer verließ Rumänien 1987. Der Terror des Ceauºescu-Regimes war auch ihm unerträglich geworden. Im Mai 1996 besuchte er im Auftrag der Architekturzeitschrift "Bauwelt" Bukarest. In seinem Artikel (26) berichtet er von seinen Eindrücken von einer Stadt, in der die Menschen das Trauma der Diktatur auch sechs Jahre nach deren Ende noch nicht verarbeitet haben und in der die eben erst erkämpften Freiräume nach einer kurzen Zeit des Aufatmens und des Vergessens schon wieder enger zu werden drohen.

Auch Henriette Schroeders Text entstand 1996 als ein Beitrag für das Bukarest-Sonderheft der "Bauwelt" (27). “Fast wie in Rick’s Café” treffen sich heute im Restaurant “La Premiera” Schauspieler, Künstler, Intellektuelle, Neureiche und Politiker. Die Gäste des hinter dem Nationaltheater gelegenen Restaurants sind ein Spiegelbild der Verwerfungen innerhalb der rumänischen Führungselite nach der Wende.

Während die anderen “rumäniendeutschen” Autoren (Schlesak, Söllner, Müller, Frauendorfer) inzwischen in der Bundesrepublik leben, ist der 1939 in Hermannstadt/Sibiu geborene Joachim Wittstock weiterhin in Rumänien ansässig. Wittstock lebt in seiner Geburtsstadt und ist am dortigen Forschungsinstitut der Rumänischen Akademie als Literaturhistoriker tätig. Im Frankfurter dipa Verlag sowie in rumänischen Verlagen erschienen von ihm seit 1972 mehrere Sammlungen mit Lyrik, Prosaskizzen und Erzählungen. Sein letztes Werk ist der Prosaband "Spiegelsaal", der 1994 im Bukarester Kriterion Verlag erschien (28). Der Band vereinigt fünfundzwanzig Skizzen und Erzählungen, die teilweise bereits zuvor in der deutschsprachigen Presse Rumäniens veröffentlicht wurden. Hier findet sich auch der Text Machtblock, der allerdings, wie zwei weitere Kurztexte, die sich ebenfalls um das Thema des Umbruchs gruppieren, hier zum ersten Mal publiziert ist. In seiner Vorrede schreibt Wittstock, dieser Text skizziere “die damals im Bau befindliche Zentrale diktatorischen Herrscherwahns und halte, in einigen Strichen, den Zeitpunkt höchster und letzter Konzentration kommunistischen Führungswillens fest.” (29) Die Angst und Entsetzen verursachende Kälte, die der Machtblock ausstrahlt, läßt die Betrachter des Gebäudes erschreckt zurückweichen und taumelnd weiterziehen. Sie erdrückt alle Hoffungen auf eine bessere Zukunft. Der Spaziergang in der Nähe des “Volkshauses” ist zeitlich genau datiert: Es ist der 9. Dezember 1989, und in den ersten Zeilen des Textes spielt der Autor auf den wenige Tage später in Temeswar/Timiºoara beginnenden Volksaufstand an, der schließlich am 22. Dezember zum Sturz der Diktatur führte.

Während Enzensberger eher verspielt satirisch mit dem Grauen der jüngsten rumänischen Vergangenheit umzugehen vermag, wirft Wittstock, als ein Betroffener, gezielte und genaue Blicke auf das Entsetzen und das Entsetzliche der Realität. Dieses ist für ihn eine der Hauptforderungen seiner schriftstellerischen Bemühungen, wie er in einem Interview erklärt: “Die Suche nach Klarheit, dieses verpflichtende Motiv literarischen Ausdrucks, darf ich wohl schwerlich aufgeben.” (30)

Ceausescus Palast - Ein Haus ohne Bilder (31), eineinhalb Jahre nach dem Sturz des Diktators im FAZ-Magazin erschienen, ist ein Teil einer umfangreicheren Reportage über Rumänien von Martin Mosebach.

Trotz einiger topographischer Fehler gibt die Beschreibung Alte Welt, neue Stadt (32) von Rüdiger Wischenbart ein genaues mentales Portrait Bukarests wenige Jahre nach der Wende. Der Text des österreichischen Autors findet sich in dem Reisebuch Canettis Angst - Erkundungen am Rande Europas, das den Weg des Autors, der Donau von Wien aus nach Südosten folgend, nachzeichnet. Wischenbart reiste im Sommer 1992, als der Jugoslawienkrieg die direkte Route blockierte, über Budapest, Großwardein/ Oradea, Nordrumänien, Jassy/Iasi, Bukarest und Veliko Tarnovo nach Istanbul. Seine Beobachtungen sind Mitteilungen von einer Grenze:

Irgendwo zwischen Wien [...] und Istanbul muß diese Grenze liegen - wie schon so oft in der wilden Geschichte dieser Region [...]. Um die Grenzen ging es mir, und um eine simple Frage: Wenn heute ein vereintes, integriertes Europa entsteht, dann muß dieses Europa eine Grenze ausbilden, hinter der dann eben nicht mehr Europa sein kann [...] (33)

Wie Enzensbergers Bukarest sind die Bukarester Geschichten (34) des österreichischen Autors Max Blaeulich fiktive Texte. In den sieben grotesken Prosastücken wird Bukarest zu einer Hauptstadt Absurdiens. Die Texte sind eine “schwarze Hommage an Bukarest” und an den rumänischen Dichter Urmuz (35). Blaeulichs “Geschichten” scheinen aber auch eine moderne, anarchische Fortschreibung der Maghrebinischen Geschichten Gregor von Rezzoris (36) zu sein, - auf Entlehnung und Querverweis deutet bereits der Titel hin.

IV. In all diesen Texten finden sich bestimmte sich wiederholende Leitvortsellungen von Bukarest. Einige der geläufigsten sollen im folgenden kurz vorgestellt werden.

Hans Magnus Enzensberger hat sich zu dem Problem des Verhältnisses zwischen (stereotypen) Bild und Realität in dem bereits oben zitierten unveröffentlichten Interview (37) mit den Redakteuren der Neuen Literatur geäußert, als er sich im März 1990 erstmals in Bukarest aufhielt. Auf die Frage seiner rumänischen Gesprächspartner, ob man in Zukunft von Rumänien weiterhin nur das wahrnehmen wolle, was in das westliche Raster passe, antwortete Enzensberger:

Ich fürchte, ja. Damit muß man schon rechnen. Ich glaube nicht, daß die Wahrnehmung der Welt so leicht zu verändern ist. Sie wird immer simplifiziert sein. (38)

Im weiteren Verlauf des Gesprächs erläutert der Dichter seine Vorstellungen vom Inhalt und von der Bedeutung westlicher Stereotypen an einem Beispiel:

Ich meine schon allein das Wort ‘Balkan’ [...], ‘Balkan’ ist ja eine Metapher. Es ist ja gar keine Realität [...]. Das Gefährlichste besteht in der Bestätigung solcher Klischees, zum Beispiel gilt der Balkan als Unruheherd. Das ist eines der alten Klischees. [...] Das Furchtbarste an den Stereotypen ist ja, daß sie nie ganz falsch sind. Eine Spur Wahrheit ist ja immer dabei. [...] Es ist ja nicht das Problem der Lüge, sondern das Problem der Wahrnehmung, die konditioniert ist durch Halbwissen und Viertelwissen vorhergehender Art. [...] (39)

Auch Enzensbergers Bukarest gerinnt zu einer Metapher, und untersucht man diese Metapher “Bukarest” eingehender, so wird deutlich, daß auch sie synonym für “Balkan” verwendet wird. Interessant wird Enzensbergers Rumänien-Imagination durch dessen Kontrastierung mit dem europäischen Amerika-Bild, durch den Gegensatz zur amerikanischen Einheitskultur: Während der fiktive Reporter Timothy Taylor im Jahre 2006 in einem amerikanischen Spezialitätenrestaurant in Bukarest speist, schwadroniert der amerikanische Geschäftsführer Woolstone über die Rumänen. Dem alles erfassenden “American Style” steht antipodisch das Bild Bukarests und Rumäniens als “Wilder Osten” (40) gegenüber: Die Beschreibung der Menüliste des amerikanischen Restaurants, - “[...] Long Island Lobster, Baked Virginia Ham, Lemon Meringue Pie, sogar die Weine kommen aus San Francisco (41) [...]” -, wird unterbrochen von Woolstones Bemerkung:

Kein Fleisch, keine Glühbirnen, kein Strom. [...] Noch vor 15 Jahren waren die Rumänen die reinsten Hungerkünstler. (42)

Während die amerikanischen Protagonisten Rumänien als Wirtschaftswunderland preisen, bestehen die Rumänen darauf, daß sich das Volk trotz aller äußerlichen Veränderungen gleich geblieben sei. Sie betonen immer wieder das Statische ihrer Mentalität und geben sich viel pessimistischer als die Amerikaner, wenn es um die Zukunft ihres Landes geht: Die Amerikanisierung Bukarests bleibt letztendlich in ihren Augen lediglich eine Fassade.

Während Taylor wie ein rasender Reporter von einem europäischen Land ins andere reist, präsentiert sich ihm hinter immer gleichen Kulissen europäischer Großstädte eine ihn verblüffende Vielfalt der Volkscharaktere. Im Vergleich mit Amerika erscheint ihm diese Buntheit chaotisch. Auf das Staunen des Amerikaners entgegnet ein finnischer Weiser:

Das, was sie Chaos nennen, ist unsere wichtigste Ressource. Wir [Europäer] leben von der Differenz. [...] Was die europäische Gesellschaft betrifft, so ist sie bis in ihre Mikrostruktur hinein irregulär. Der Mischmasch ist unsere endgültige Gestalt. (43)

Kehren wir also die Skepsis der rumänischen Figuren ins Postive, dann bietet der Text eine durchaus optimistische Perspektive: Die europäischen Eigenarten, die Individualitäten der Nationen, die Vielfalt dieses Kontinents, die ganze Buntheit der Kulturen und Mentalitäten besitzen genügend Widerstandskraft, um sich der kulturellen Globalisierung durch Amerika zu widersetzen. Sie blieben auch dann erhalten, wenn man sie mit amerikanischen (Einheits-)Fassaden und Kulissen überzöge. Darin sieht Enzensberger die Stärke unseres Kontinents.

Während Enzensberger dem sogenannten “Balkanischen” in der Wesensart der Rumänen und in deren Hinweisen auf die Rückständigkeit der Landbevölkerung nachspürt, beschreiben einige Autoren die Orte in Bukarest, an denen sich die geographische und mentale Lage der Stadt widerspiegelt. Es ist natürlich immer wieder die Strada Lipscani, die in den westlichen Texten in diesem Zusammenhang zitiert wird:

‘Numai cine joaca, poate câstiga!' - ‘Nur wer spielt kann gewinnen!’ Hier wird Glück angeboten. Ein Spielautomat in der Menschenmenge. Daneben wird lautstark um Jeans unbekannter Herkunft gefeilscht. Ein paar Schritte weiter werden Kleider und Damenschuhe ausgeschrien. Lautstark wird es vor allem da, wo Käufer für Musikkassetten gesucht werden. [...] Daneben der Mann, der Zuckerwatte verkauft, die Frau, die Sonnenblumenkerne anbietet, Gewimmel, Getöse, Rufe [...] (44)

So beschreibt Frauendorfer die Strada Lipscani; - und so Wischenbart:

Hier sieht es aus wie in einem algerischen Basar [...] koreanische und taiwanesische Kassettenrekorder, Videokassetten, Waschmittel aus dem Westen, Bier aus Ungarn und Zigaretten aus Istanbul. (45)

Zusammenfassend erscheint in allen Texten das Balkanische als das Unordentliche, Labyrinthische, als das Undurchdringliche, in welchem sich das Elend und die Armut spiegelt. Es ist das Milieu der Geldwechsel, der Zigeuner und der zwielichten Gestalten, (46) ein Milieu, das dem westlichen Rationalismus entgegengesetzt ist.

Bukarest erscheint immer wieder als eine Stadt der Gegensätze. So kontrastiert die Strada Lipscani mit ihrem balkanisch-orientalischen Treiben mit den stilleren Straßen der Altstadt, die von den westlichen Besuchern ebenfalls durchstreift werden. Hier atmet hinter bröckelnden Fassaden noch der Charme Altbukarester Bürgertums:

Die merkwürdige Mischung aus balkanisch-byzantinischer Lebensweise einerseits und dem Streben der Intellektuellen nach kulturellen Werten des Okzidents andererseits ist in Bukarest wie in keiner anderen Stadt Rumäniens sichtbar schreibt Frauendorfer (47).

Mosebach bemerkt zu einem Spaziergang durch eines der alten Viertel:

Hier wohnten einmal wohlhabende Leute, behagliches Bürgertum, das mit der Phantasie der Sehnsucht nach Paris blickte und mit dem Herzen an Konstantinopel hing. Das Aussehen der Häuser läßt selbst heute noch, im Zustand der äußersten Verwahrlosung, eine Lebensform vor dem inneren Auge entstehen, die jeden Ausländer, der das alte Bukarest betrat, betäubte und festhielt. (48)

Wischenbart spricht von einer “in Armut ergrauten Ersatzbürgerlichkeit.” (49), die sich nun wieder zeige und sich dem aus dem Westen kommenden Kommerz und Kitsch entgegenstelle. Die Villen dieser Stadt, “halb städtisch und europäisch [...], halb den Nachhall des Orients verratend” (50), strömen Kultiviertheit aus und eine bedachtsame Lebensweise (51); sie sind “Zeichen einer ‘bourgeiosen’ Intimität. (52)” - Keine geringere Stadt als Paris diente dem Bukarester Bürgertum als Vorbild, und der Glanz dieser Gesellschaftsschicht läßt sich heute noch erahnen.

So wie sich dieser morbide Charme in den alten Villenvierteln spiegelt, so wie sich das “Balkanische” in der Strada Lipscani manifestiert, so hat auch die Erinnerung an die Ceausescu-Diktatur in der Stadt ihre Topographie. Unsere Autoren beschreiben immer wieder die Casa Poporului, den Unirii-Boulevard und die grauen Wohnblockviertel, die das alte Zentrum umgeben. Auffallend ablehnend ist das gemeinsame Urteil der deutschen Autoren gegenüber der Architektur des “Palastes”, - interessanterweise stehen die Deutschen damit im Gegensatz zu vielen Stimmen amerikanischer, französischer und italienischer Provenienz. Für Mosebach ist der “Parlamentspalast”, wie er heute im offiziellen Sprachgebrauch genannt wird, “ein Alptraum aus Beton, Glas und Mamor, der sich nicht aufgelöst hat, als sein Erfinder starb.” (53) Wischenbart meint, daß dieses neue Wahrzeichen Bukarests “Zweifel an der Vernunft des Menschen schüre.” (54) Der aus Hermanntadt/Sibiu stammende Wittstock beschreibt sehr eindringlich die Kälte, die bis 1989 von diesem Monument ausstrahlte:

Wenn in einer der Hallen ein Altar aufgerichtet wäre und Priester ließen ihren Weckruf und ihre Bitte hören, würde auch noch der letzte Laut vom bedrohlichen Schweigen getilgt. Wären an den Wänden Heiligen-bilder angebracht, und die Menschen flehten sie in ihrer Bedrängnis an, erstürben ihnen binnen kurzem die Worte auf den Lippen. [...] Wenn auf dem prächtigen Teppich einer kniete, der sich nicht anders zu helfen wüßte, als um Gnade zu flehen, würde er niedergetreten [...] (55)

Mosebach vergleicht das gigantische Bauwerk mit der Domus Aurea, dem goldenen Palast des Kaisers Nero, (56) wodurch der rumänische Diktator in die Nachfolge des geisteskranken römischen Kaisers gerät, der in seinem Wahn beim Anblick des brennenden Rom so verzückt war, daß er zur Leier gegriffen und gesungen haben soll: “Wahrscheinlich,” so schreibt Mosebach, “kämen auch die Qualitäten des Bukarester Palastes am besten in den Gluten einer gewaltigen Feuersbrunst zur Geltung.” (57)

Als architektonisches Gegenstück zu den diktatorischen Herrscherwillen ausdrückenden Prunkbauten im Stadtzentrum erscheinen die grauen Wohnblockzonen an der Peripherie, die ebenfalls von den Autoren wahrgenommen werden: “Und ungeheizte Wohnungen gibt es für die vielen, in den Wohnblockschluchten,” (58) als Gegensatz zu den Bauten für den “EINEN”, schreibt Herta Müller. - “Grau in Grau” so Frauendorfer, “entstand ein Labyrinth, in dem sich kein Mensch auskannte.” (59) Wischenbart betont, daß diese Stadtviertel mit ihren “[...] kombüsenkleinen Wohnungen und nicht funktionierenden Heizungen” eben das Pendant zur pathetischen Prachtarchitektur im Zentrum darstellt. (60) Der Teilabriß der Altstadt und der Bau neuer Stadtviertel aus grauen Wohnblocks in Fertigbauweise war als “Systematisierung”, als große Vereinheitlichung, die realsozialistische Antwort auf die balkanische Unordnung; mit ihr sollte das Chaos gebändigt werden. Sie diente der Vernichtung der “Vieldeutigkeit in einer kurzen bürgerlichen Übergangszeit.” (61)

Inzwischen wohnen, wie Werner Söllner bemerkt, die meisten Bukarester längst in Balta Alba, in Militari oder Pantelimon: In den riesigen Neubaugebieten, die nachts wie zerklüftete Mondlandschaften aussehen. (62)
Bukarest wuchs in den vier Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg um mehr als das Doppelte seiner Einwohnerzahl. Vor allem Bauern zog es in die Stadt, die hier in den großen Industriebetrieben ihre neuen Arbeitsplätze fanden. Sie brachten ihre ländliche Lebensweise in eine Zweieinhalb-Millionen-Stadt und bestimmen ihr Bild bis heute. Frauendorfer berichtet über seinen Besuch bei einem jährigen, der in einer Einzimmerwohnung lebt:

Ionita Constantin ist Bauer und kann nicht anders leben als wie ein Bauer. [...] Am Schrank lehnt ein Fahr-rad. Unter dem Fenster steht eine Kiste mit Kartoffeln, daneben ein Eimer mit Mais, vor dem Fernseher steht ein Sack Mehl [...] (63)

In Max Blaeulichs grotesken Bukarester Geschichten erscheinen tanzende Bauern, die der Autor sicher bei seinem Besuch in der Vorweihnachtszeit beobachtet hatte, da sie, einem alten Brauch folgend, während dieser Zeit in Kostümen und Masken auf den Straßen musizieren und tanzen:

Im Frühjahr, vor Ostern und manchmal im Sommer vor der Heuernte kommen aus bergigen Gegenden einfache Bauern nach Bukarest und beginnen auf öffentlichen Plätzen zu tanzen. In diesem Jahr kamen sie verspätet. Sie trafen im Dezember ein. [...] Durch irgendein Ereignis waren sie aus ihrer Tradition geworfen worden, hatten ihren Sinn im Brauch verloren und irrten zur Unzeit herum. (64)

Andere Autoren rühmen die Reste ländlicher Idylle in den alten Villenvierteln:

Diese Gassen waren noch nicht bis in die Winkel hinein ausgeleuchtet, geglättet und für jeden daherge-laufenen Passanten sperrangelweit geöffnet worden. [...] Das Sonnenlicht fiel gefiltert durch das grüne Laubwerk der Platanen. Die Dächer blieben selbst mittags in ein schattiges Halbdunkel gehüllt. (65)

Besonders prägnant hebt sich im Stadtbild über die Jahrzehnte hinweg die deutscher Perspektive unverändert leichtlebig, wenn nicht gar ‘lüderlich’ erscheinende Bukaresterin ab, schreibt der Bukarester Journalist Gruenwald über das deutsche Bild von den Frauen der Stadt. (66) An dieser einen Stelle scheint es uns angemessen, einen Blick zurück in der Zeit zu werfen, (67) denn die Vorstellung von den Frauen68 ist insofern interessant, als sie, historisch gesehen, auffalend konstant bleibt: Einerseits rühmen sowohl historische als auch zeitgenössische Autoren immer wieder die Schönheit der rumänischen Frauen, (68) andererseits tadeln sie diese als verrucht und nicht sehr tugendhaft. Hudo Fromholz schreibt 1890:

Besonders die Damen der Bojarenfamilien gelten als bodenlos lüderlich alle zusammen! (69)

Paul Lindau bemerkt zur gleichen Zeit:

Die großen, feurigen Augen mit den starken schwarzen, mondsichelförmigen Brauen, die runde Taille [...] und der Glanz der geschmackvollsten Pariser Toilette - alles das bietet dem Auge ein wohlgefälliges, heiter schönes Bild dar [...] Wie sehr tugendhafte Damen sehen sie allerdings nicht aus. (70)

Hundert Jahre später beschreibt Rüdiger Wischenbart die moderne Bukaresterin:

Die Männer trugen Sonnenbrillen. Die Bräute kurze Lederröcke. Die Auftritte waren amerikanischen B-Mo-vies abgeschaut. [...] Von den eben erst herbeigezauberten Requisiten ging ein Vibrieren aus, das die ganze Stadt erfüllte. Eine sitzt da, läßt den Saum raufrutschen, wippt mit dem Bein. [...] Zwischen den Schenkeln ahnt man Schweißperlen. Die Lust wird ans Licht gebracht. Das ist neu in Bukarest. (71)

In diesen Zusammenhang gehört, daß sich in allen referierten Texten Anspielungen finden, wonach Bukarest sich nicht nur architektonisch, sondern auch im Hinblick auf die Lebensweise seiner Bewohner mit Paris vergleichen läßt. Die in Deutschland verbreiteten Klischees von einer laxen Sexualmoral in Frankreich erscheinen auf die rumänische Hauptstadt übertragen worden zu sein, wenn in den Texten immer wieder von gewissen “Damen” die Rede ist, “die in den Hotelhallen warten.” (72) - “Wie seit Ewigkeiten saßen in der Bar im einundzwanzigsten Stock [...] die Huren herum,” (73) beobachtet Wischenbart, und Enzensberger läßt seine rumänische Protagonistin sagen:

In Bukarest gibt es nur eine Sehenswürdigkeit, das sind die Nutten. (74)

Die größte Obsession dieser Stadt ist der kollektive Glaube, hinter jeder Bedeutung lägen noch ungeahnte andere Realitäten verborgen. Genaugenommen ist es auch kein Glaube, sondern eine Gewißheit, die jedermann teilt. Nichts, was offen vorliegt, darf Wahrheit genannt werden", schreibt Wischenbart. (75)

Bukarest ist immer noch die Stadt der Gerüchte, der Legenden, Mythen und der Wunder, - begonnen bei den zu Klischees erstarrten Daker-Mythen und der Dracula-Legende, die natürlich von vielen Autoren zitiert werden, (76) bis hin zu den modernen Legenden, die sich um den Absturz einer TAROM-Maschine im März 1995 ranken:

Etwa eine Stunde nach dem Absturz erfuhr ich davon in einem Bukarester Hotel. Eine weitere Stunde später waren die ersten Bilder im Fernsehen zu sehen. Doch bicht vom Nationalen Fernsehsender TVR; es war einer der wenigen privaten Sender, Antena 1, der die ersten Bilder brachte. [...] Doch das hinderte den [staatlichen, d.V.] Sender nicht daran, am Abend den Tenor für die Berichterstattung anzugeben. Das Wesentliche: Es kann kein Fehler rumänischer Piloten, noch weniger der rumänischen Fluggesellschaft TAROM gewesen sein. Und ungewöhnlich professionell hatte man auch eine Dokumentation zusammengestellt - mit bisher am Airbus A310 aufgetretenen Mängeln. Am nächsten Tag betitelte eine Boulevard-Zeitung den Absturz als Terro-ranschlag. Andere, auch als seriös geltende Zeitungen zogen nach: ‘Bombe an Bord - ja. Fehler des Piloten - nein.’ Der Direktor der rumänischen Fluggesellschaft gab Interviews: ‘Ich denke gar nicht daran, daß der Pilot einen Fehler gemacht haben könnte.’ Und es flutete an Superlativen über die rumänischen Ingenieure und Piloten, die die besten der Welt seien. ‘Dies kann kein rumänischer Tod gewesen sein’, schrieb eine andere Zeitung. Und es wurde scharf nachgedacht, auch vom Rumänischen Nachrichtendienst SRI, welche Gründe Terroristen aller Couleur für einen solchen Anschlag gehabt haben könnten. Die Terroristen - das magische Wort für alles Negative in der Öffentlichkeit. Es hat Tradition. Schon während und auch nach dem Sturz von Ceauºescu, als im Dezember 1989 immer noch in die Bevölkerung geschossen wurde, hieß es, es seien Terroristen. [...] Letztendlich war es doch ein Fehler der Piloten. (77)

Daß “hinter jeder Bedeutung noch ungeahnte andere Realitäten verborgen” (78) sind, demonstriert, auf einer anderen Wirklichkeitsebene, eine kleine Anekdote, die Martin Mosebach wiedergibt: Im vormals glanzvollen Restaurant Capsa wird dem westlichen Gast mit Dollar bezahlter Kaviar zelebriert - mit all der dazu notwendigen Servilität des Oberkellners: “Seine Gesten haben sich in nichts von denen unterschieden, die wirklichem Kaviar angemessen gewesen wären. [...] Recht geschieht dem Gast, wenn er da lesen wird: ‘Deutscher Seehasenrogen’ [...]” (79), nachdem er die Papiermanschette um die vermeindliche Kaviarkonserve gelöst hat.

Auch Herta Müller zitiert das Bukarest der Gerüchte und Legenden, wenn sie über einen Besuch an Ceau[escus Grab berichtet: “Liegt ER wirklich hier? Die Stimmen gehen durcheinander: Ganz bestimmt, wahrscheinlich, auf keinen Fall.” (80)

Westliche Klischees und der reale morbide Charme des Zerfalls vermischen sich miteinander und formen, von den phantasmagorischen Erzählungen seiner Bewohner genährt, ein teilweise mythengefärbtes Gemälde von diesem Ort am Rande Europas. So verfallen auch Autoren, die sich um ein realistisches Bild der Stadt bemühen, der Erfindung und Phantasie, die durch Stereotype, Gerüchte und Legenden angereichert wird. Dies hat sicher auch mit der Wahrnehmungsweise der Bukarester zu tun, für die Gerüchte häufig noch immer realer sind als die Wirklichkeit:

[...] Der westdeutsche Dichter [Enzensberger, d. V.] betrachtete vor dem ZK interessiert den Eingang zum unterirdischen Tunnelsystem; [...] hier sah man fernsehgerecht das politische Grauen auf Schlafzimmerniveau: dieser Untergrund endete direkt im Schlafzimmer des Diktators, sagte Herbert G.: Zugang zu seinen Alpträumen. (81)

Bukarest bleibt ein Ort am Rande des Kontinents, wo Realität und Imagination eine nur schwer zu trennende Verbindung eingehen, deren Anziehungskraft sich der westliche Besucher nur schwer entziehen kann: “Nach der Lektüre von Blaeulichs ‘Bukarester Geschichten’“, schreibt die Tageszeitung in einer Rezension, “möchte man jedenfalls sofort und unbedingt dorthin reisen.” In Blaeulichs Texten ist Bukarest zu einer Hauptstadt Absurdiens geworden, die zwischen Realität und Phantasie gleichsam zu schweben scheint, - wie Ceausescus Palast bei Martin Mosebach und wie die Bukarester Kirchen in Blaeulichs Geschichten:

[...] hätte ich nicht gesehen, daß sowohl die tanzenden Bauern als auch die Kirche in diesem kritischen Augenblick zirka zehn bis zwanzig Zentimeter über dem Boden schwebten[...]
Bukarest bleibt ein Ort,
[...] wo man noch in Legenden schwelgen kann.


ANMERKUNGEN:

(1) Battafaramo, I. M., Literatur versus Landeskunde. Italien als Ort der deutschen Literatur, in: Thum, B./ Fink, G. L., Praxis interkultureller Germanistik, Forschung - Bildung - Politik, München 1993, S. 565.

(2) Csejka, G., Wann schreiben die osteuropäischen Autoren endlich die richtigen Bücher?, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, hg. v. Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 1996, Ausg. 1/96, S. 63.

(3) Aescht, G., Europa auf rumänisch und deutsch, in: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien (fortan als ADZ angeführt) vom 24. 8. 1996, S. 5.

(4) Wierlacher, A., Toleranzforschung, in: Thum u.a. wie Anm. 1, S. 99.

(5) Fischer, M. S., Nationale Images als Gegenstand vergleichender Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entsteheung der komparatistischen Imagologie, Bonn 1981, S. 20.

(6) In einem unveröffentlichten Interview mit den Redakteuren der Bukarester Neuen Literatur vom März 1990, - dem Verfasser liegt das Interview als Tonkassette vor -, sagt Enzensberger: “[...] Und so hat mich mein Glück in verschiedene Gegenden der Welt geführt, aber bisher leider noch nicht nach Rumänien.”

(7) Enzensberger, H.M., Ach, Europa!, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1987, S. 485-491.

(8) Schlesak, D., Mauer los, in: Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, Heft 1-2 (3-4), Bukarest 1993, S. 132-138.

(9) Ebd., S. 136.

(10) Schlesak, D., Wenn die Dinge aus dem Namen fallen, Rowohlt Verlag Reinbek 1991, S. 35-38.

(11) Ebd., S. 2.

(12) Schlesak, D., Stehendes Ich in laufender Zeit, Reclam Verlag Leipzig 1994; über Bukarest vor allem die S. 118-128 und 131-133.

(13) Vogt, G., Ausreise, in: Solms, W., Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur, Marburg 1990, S. 211.

(14) Söllner, W., Kopfland. Passagen, Frankfurt 1988.

(15) Schlesak, D., Wenn die Wörter verhaftet werden, in: Die Welt vom 30.5.1992.

(16) zitiert nach: Aescht, G., Bedrängende Ferne, Teil 1, in: Karpaten-Rundschau, (Kronstadt/Bra[ov, vom 15.6. 1992, S. 2. (Ferner als KR angeführt.

(17) Ebd., Teil 3, in; KR vom 22.6.1996.

(18) Müller, H., Reisende auf einem Bein, Rotbuch Verlag Berlin 1989.

(19) Wagner, R., Die Bedeutung der Ränder, in: Neue Literatur (NF), 1/1994, Bukarest, S. 36.

(20) Ebd., S. 44.

(21) Söllner, W., Bukarest, eine Hauptstadt zwischen Kleinmut und Größenwahn, in: FAZ-Magazin, Frankfurt, Heft 678 vom 26.2.1993, S. 23-33.

(22) Ebd., S. 32.

(23) Müller, H., Hunger und Seide, Essays, Rowohlt Verlag Reinbek 1995, S. 127-135.

(24) Ebd., S. 128.

(25) Ebd., S. 129.

(26) Frauendorfer, H., Bukarest, Mai 1996, in: StadtBauwelt 131, Sonderheft Bukarest, (Vierteljahresheft der Bauwelt Nr. 36) vom 27.9.1996, Berlin, S. 2026-2031.

(27) Schroeder, H., Fast wie in Rick’s Café, in: ebd., S. 2032-2033.

(28) Wittstock, J., Spiegelsaal. Skizzen - Erzählungen, Kriterion Verlag, Bukarest 1994, S. 39-41.

(29) Ebd., S. 9.

(30) Weber, A. / Wittstock, J., Klarheit, dieses verpflichtende Motiv. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Joachim Wittstock, in: KR, Nr. 40 vom 6.10.1994, S. 1 u. 6.

(31) Mosebach, M., Ceauºescus Palast - Ein Haus ohne Bilder, in: FAZ-Magazin, Frankfurt, Heft 601 vom 6.9.1991, S. 59-62.

(32) Wischenbart, R., Canettis Angst - Das Reise-Buch der Ränder, Wieser Verlag, Klagenfurt - Salzburg 1994, S. 115-168.

(33) Ebd., S. 10.

(34) Blaeulich, M., Bukarester Geschichten, Wieser Verlag Klagenfurt - Salzburg 1994.

(35) Ebd., Klappentext.

(36) Rezzori, G. von, Maghrebinische Geschichten, Rowohlt Verlag Reinbek 1958 (Erstausgabe).

(37) s. Anmerkung 6.

(38) Ebd.

(39) Ebd.

(40) Enzensberger, H.M., Ach, Europa!, S. 486.

(41) Ebd., S.485.

(42) Ebd.

(43) Ebd., S. 483f.

(44) Frauendorfer, H., S. 2028.

(45) Wischenbart, R., S., 161.

(46) Ebd., S. 116 u 119f., Frauendorfer, H., S. 2028.

(47) Frauendorfer, H., S. 2029.

(48) Mosebach, M., S.62.

(49) Wischenbart, R., S. 125.

(50) Ebd., S. 133.

(51) Ebd.

(52) Ebd., S. 150.

(53) Mosebach, M., S. 60.

(54) Wischenbart, R., S. 149.

(55) Wittstock, J., S.40.

(56) Mosebach, M., S. 58.

(57) Ebd.

(58) Müller, H., S. 129.

(59) Frauendorfer, H., S. 2030.

(60) Wischenbart, R., S. 160.

(61) Ebd.

(62) Söllner, W., S. 25.

(63) Frauendorfer, H., S. 2031.

(64) Blaeulich, M., S. 75.

(65) Wischenbart, R., S. 144.

(66) Gruenwald, H., Bukarest im Spiegel deutscher Reiseberichte, in: StadtBauwelt 36 (siehe Anm. 26) S. 2073.

(67) Zum historischen Rumänienbild in Deutschland siehe: Heitmann, K., Das Rumänienbild im deutschen Sprachraum, 1775-1918 (Studia Transylvania 12), Köln 1985; zum Bukarestbild in deutschen Reiseberichten: Gruenwald, H., a.a.O.

(68) Zum deutschen Bild der Rumänin siehe: Gruenwald, H., a.a.O., und Heitmann, a.a.O., S. 164-180 (“Sex-ualmoral, Ehe- und Familienleben bei den Rumänen”).

(69) zit. nach Gruenwald, H., S. 2072.

(70) Ebd.

(71) Wischenbart, R., S. 117.

(72) Mosebach, M., S. 60.

(73) Wischenbart, R., S. 115.

(74) Enzensberger, H. M., S. 489.

(75) Wischenbart, R., S. 123.(

(76) Zum Daker-Mythos: Wischenbart, R., S. 138 f.; zum Dracula-Mythos: Wischenbart, R., S. 134, Enzensberger, H.M., S 488, u. a.

(77) Frauendorfer, H., S. 2028.

(78) Wischenbart, R., S. 123.

(79) Mosebach, M., S. 60.

(80) Müller, H., S. 130.

(81) Schlesak, D., Bukarest, März 1990, S. 122.

 

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Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 6. Jg., Heft 1-2 (11-12) / 1997, S. 269-277

 

 

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