Home | BAC/Teze | Biblioteca | Jobs | Referate | Horoscop | Muzica | Dex | Games | Barbie

 

Search!

     

 

Index | Forum | E-mail

   

 Bine ati venit in sectiunea dedicata limbii si literaturii germane. In aceasta sectiune veti avea posibilitatea sa descoperiti multe lucruri utile care speram sa va ajute la cursuri. Willkommen bei ScoalaOnline!

 

 
 
 
 
 + Click:  Grupuri | Newsletter | Portal | Ziare,Radio/TV | Forum discutii | Premii de excelenta | Europa





 

 

 

Zurück zum index ZGR 11-12

Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (GGR) - www.ggr.ro

Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 6. Jg., 1-2 (11-12) / 1997, S. 79-87

 



SEMIOTIK UND ÄQUIVALENZTHEORIE. EINE INTERDISZIPLINÄRE STUDIE ZUR ADÄQUATHEIT SEMIOTISCHER

 INSTRUMENTE BEI DER BESCHREIBUNG DES ÄQUIVALENZPHÄNOMENS

(MIT BEZUG AUF DEN FUNKTIONALEN UND HERMENEUTISCHEN ÄQUIVALENZBEGRIFF)

Daniela Kohn, Gabriel Kohn

 

Es gilt zunächst zu untersuchen, inwieweit das Übersetzen ein Fall für die Semiotik ist, d.h. inwieweit Übersetzen einen Akt der Semiose darstellt, um dann die Nützlichkeit semiotischer Untersuchungsverfahren der Zeichentätigkeit für die Übersetzungswissenschaft zu erörtern.

Die Semiotik befaßt sich mit allem, was man als Zeichen auffassen kann und betrachtet sich selbst als ein Feld von Untersuchungen, die die kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse untersucht (vgl. dazu die Ausführungen in Eco: 1987, Kap. 01-05, die den Eindruck eines “arroganten Imperialismus” der Semiotik wiederlegen). Das Übersetzen als kultureller Transfer (wie es der funktionale Ansatz von Reiß und Vermeer definiert) und zugleich als transkulturelle Kommunikationsform stellt dementsprechend ein Phänomen dar, das zum Aufgabenbereich der Semiotik gehört. Andererseits geht man beim Übersetzen mit Texten um, die aus der Produktion verbaler Zeichen enstehen. Damit wäre die Legitimität einer semiotischen Analyse der überstezerischen Tätigkeit begründet. Ob diese auch nützlich sein kann, hängt auch von den bisherigen Leistungen der verschiedenen übersetzungs-theoretischen Ansätze ab.

Es ist heute deutlich geworden, daß die neuere Übersetzungswissenschaft (ÜW) dazu bereit ist, das bisher allgemein verbreitete - aus der Kommunikationstheorie übernommene - 3-Phasen-Modell zur Darstellung der Ablaufsweise des Übersetzungsvorgangs allmählich zu überwinden.





 

Es gibt seit der 80er Jahre Anzeichen einer methodologischen Wende, infolge dessen die Rolle und Leistung des Übersetzers ins Zentrum der theoretischen Erklärungsversuche gerückt sind. Der Übersetzer wird als eine den Translationsprozeß maßgeblich bestimmende übersetzerische Instanz (“the focal element in translating”, Nida, 1964, apud Wills, 1988: 41) betrachtet.

Die vom Grundsatz der kulturellen Distanz zwischen Original und Übersetzung ausgehende funktionale Translationstheorie von Reiß und Vermeer (1) markiert die endgültige Kritik des “interlingualen Kommunikationsmodells” der Leipziger Schule. Reiß und Vermeer behaupten, daß eine Translationstheorie eigentlich ein Modell interkultureller Kommunikation bieten müßte, um dadurch die Bedingungen und die Regeln der Handlungen des Übersetzers anzugeben.
Übersetzen wird als ein Gefüge von Entscheidungsoperationen aufgefaßt: “(beim) Reverbalisierungsprozeß steht der Übersetzer vor einer Grundsatz- und vielfältigen Einzelentscheidungen.” (Reiss / Vermeer, 1976:36 f.) Eine Übersetzungstheorie müßte deshalb imstande sein, die erforderlichen Entscheidungen zu beschreiben:
Eine vollständige Translationstheorie müßte also Regeln angeben (können), wie (Erwartungen über) Zielsituationen analysiert werden und sich daraus Bedingungen für das Zustandekommen von Translationen able-iten. (Reiss/Vermeer, 1984:85)

Die Grundsatzentscheidung des Übersetzers betrifft - gemäß der “Skoposregel” - die Textfunktion der Übersetzung: “Oberstes Kriterium für eine Translationsentscheidung ist die (zu begründende) Funktion des Translats als Zielinformationsangebot” (ebd., S. 86). Die Grundsatzentscheidung bestimmt dann hierarchisch die Einzelentscheidungen. Es werden aber nur sehr allgemeine Äußerungen über die Regelhaftigkeit der sekundären Entscheidungen gemacht, wie z.B.:

Faßt man Translation als IAZ über ein IAA auf, so gehorcht ihre Strategie, abhängig von dem gesetzten Informationszweck, den Regeln, die optimal erwarten lassen, das eine Information ‘glückt’. (ebd., S. 87)

Damit wiederholen die Autoren ihre allgemeine Aussage, daß die Transferstrategie (die Re-Verbalisierung des Translats) der Transferfunktion untergeordnet ist. Vom Transfer selbst wird dabei verlangt, daß er “überindividuell verständlich” und “geordnet” sei, daß er “(innerhalb tolerierter Vagheitsgrenzen) umkehrbar” bleibe. Diese Forderungen betreffen das Resultat und nicht den eigentlichen Vorgang der Übersetzung.

Obwohl sie gegenüber der funktionalen Theorie von Reiß (1976) eine kritische Haltung annimmt, ist auch R. Stolze der Meinung, daß das Gelingen einer Übersetzung von den Entscheidungen des Übersetzers bei der Textformulierung in der Zielsprache abhängig ist: “Ziel des Übersetzens ist es ja, nach wiederholten Versuchen die nichtbeliebige Entscheidung für die angemessene Formulierung zu treffen” (Stolze, 1982: 196). Der Entscheidungscharakter des Übersetzungsvorgangs widerlegt auch hier die Hypothese der Übersetzung als sprachlicher Automatismus: “Damit wird der Umgang mit Sprache im Übersetzen nicht ausgedehnte Sache, sondern aktive Personalität als produktive übersetzerische Kompetenz in der Zielsprache” (ebd., S. 163); Übersetzen “wird nicht durch linguistische Beobachtung aus dem AS-Text abgeleitet (...)” (ebd., S. 169).

Übersetzen als sprachliches Gestalten, das die Übersetzungsentscheidung reflektiert (manifestiert), ist also von der produktiven übersetzerischen Kompetenz abhängig (2). Die entscheidende Komponente dieser Kompetenz ist im Rahmen des hermeneutischen Ansatzes von Stolze - neben der Sprach- und Sachkenntnis - die übersetzerische Intuition:

Grundelement der translatorischen Kompetenz als kreative Fähigkeit des Übersetzers ist eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit, sein Sprachgefühl, seine Intuition. Sie befähigt ihn, im Verstehensprozeß (des AS-Textes; unsere Bemerkung) Zusammenhänge zu erfassen, und im Übersetzungsvorgang ist sie der Ort der sprachlichen Sensibilität, ohne die das Formulieren leblos bleibt. (ebd., S. 165) (3)

Mit dieser Feststellung stoßen wir auf eine besonders wichtige Annahme, die leider implizit bleibt. Nämlich, daß die Entscheidungsoperationen des Übersetzers auf kognitiver Grundlage ausgeführt werden. Stolze kann sich aber - genau wie Wilss (1988) - keine allgemein verbindliche und einsetzbare Übersetzungsstrategie - die sich aus der Analyse der Entscheidungen ergibt - vorstellen, denn sie betrachtet die Formulierungsentscheidungen als einzeltextspezifische Handlungen. Das stimmt zwar, doch geht es uns bei der Untersuchung der Abläufe innerhalb der “black box” nicht um konkrete Übersetzungsstrategien, sondern um die allgemeinen kognitiven Schemata, die eine Einzelentscheidung, bzw. eine textspezifische Entscheidungsstrategie begründen (möglich machen). Und diese Schemata sind in der bisherigen Übersetzungswissenschaft leider unberücksichtigt geblieben. Wilss (1988) spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer “kognitiven Wende” in der Übersetzungswissenschaft, die die übersetzerische “black box” mit einer introspektiven “white box” ersetzen sollte:

Seit den 60er Jahren gibt es Anzeichen für ein neues überstzungstheoretisches Bewußtsein. Dabei geht es nicht mehr um die Selbstrechtfertigung der eigenen übersetzerischen Produktion, sondern um die Verdeutlichung der Prinzipien, Strukturen und Kategorien übersetzerischen Handelns. (Wilss, 1988:6)

Für die Lösung dieser Aufgaben setzt neuerdings die Übersetzungswissenschaft auf kognitive Erklärungsmodelle. Man geht dabei von der engen Beziehung zwischen Tätigkeit und Bewußtsein aus und vom Prinzip, daß jeder Handelnde über innere Modelle von Operationen und Operationsmustern verfügt. So gesehen ist eine Übersetzung - wie jedes Textvorkommen - “ein Dokument von Entscheidungen, Auswahl- und Kombinationsvorgängen” (De Beaugrande/Dressler, 1981: 37).

Wir glauben, daß es an dieser Stelle angebracht ist, ein mögliches Mißverständnis auszuräumen. Kognitive Modelle bilden keine Theorie der Bewußtseinsinhalte oder der tatsächlich im Individuum ablaufenden mentalen Prozesse, d.h., sie können keine empirische Wirklichkeit für sich beanspruchen. Ihr Einsatz bei der Klärung der kognitiven Grundlagen von Übersetzungsstrategien rechtfertigt sich aus ihrem operationalen Wert innerhalb einer Translationstheorie, indem sie die Erfahrung verschiedener Phänomene der Übersetzungspraxis auf eine homogene Betrachtungsweise mit Hilfe hypothetisch aufgestellter Strukturen zu reduzieren versuchen. Damit stehen wir in der Tradition eines methodologischen Strukturalismus, der auf den Anspruch einer ontologischen Gültigkeit für ihre Modelle verzichtet (4).

Über kognitive Operationen und Modelle, die während des Translationsprozesses zum Einsatz kommen, mit Hilfe hypothetischer Konstrukte zu sprechen, bedeutet also eine unvermeidliche theoretische Willkür an das untersuchte Phänomen auszuüben. Das gefährdet aber keineswegs die Legitimität des Erklärungsversuches, wenn das Untersuchungsobjekt der wissenschaftlichen Beobachtung nicht direkt zugänglich ist, denn:

Willst den Geschmack einer Birne kennenlernen, mußt du sie verändern, daß heißt sie in deinem Mund verkauen. (Mao Tse-Tung: Über die Praxis, 1937; Zitat nach U. Eco, 1991:416.)

Die Transfertätigkeit des Übersetzers wird, wie erwähnt, von der kulturellen Distanz zwischen Original und Übersetzung erforderlich gemacht. Diese kulturelle Entfernung und Andersartigkeit erklärt, warum die Solidarität zwischen AS-Text und ZS-Text nicht mit einem perfekten Äquivalenzbegriff gleichgesezt werden kann. Der Übergang zwischen den zwei Texten ist dementsprechend mit einem entscheidungsbedingten Problemlösungsprozeß vergleichbar und muß durch Handlungen “ausgefüllt” werden, die die Solidarität der zwei Texte in Differenz (um Jakobson zu paraphrasieren) rechtfertigen und begründen. Diese Handlungen - Transferentscheidungen, Transferstrategien - sind kognitiver Natur und verlangen vom Übersetzer eine produktive (schöpferische) Denktätigkeit. Der interdisziplinäre Zugriff auf kognitive Modelle, die diese produktive Denktätigkeit des Übersetzers beschreiben könnten, tauchte bisher in der Übersetzungswissenschaft nur isoliert auf und nahm nicht die Form einer abgeschlossenen Theorie an. Unser Versuch verzichtet ebenfalls auf diesen Anspruch und betrachtet sich lediglich als skizzenhafter Entwurf.

Wir stützen uns dabei auf die Ausführungen von Michael Hanke (Hanke: 1991), der im Rahmen seines semiotischen Modells schöpferischer Zeichentätigkeit eine umfassende Darstellung der psychologischen Theorie reproduktiver und produktiver Geistestätigkeit von Otto Selz bietet.

Selz - geboren im Jahre 1881 in München - gilt als Pionier in der Beschäftigung mit dem Problemkreis des produktiven Denkens und entwickelte einen intergrale Theorie der schöpferischer Tätigkeit.In seinen beiden Monographien: Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs (1913) und Zur Psychologie des produktiven Denkens und Irrtums (1922), hat O. Selz seine Theorie entwickelt und aufgrund eines umfangreichen Beispielmaterials veranschaulicht.

Für ihn ist produktives Denken eine zielgerichtete und schöpferische Tätigkeit. Die Bezeichnung “schöpferisch” wird bei Selz von ihrem traditionellen geheimnisvollen Nimbus befreit, indem bei der Erklärung der kreativen Produktivität des Menschen auf jede metaphysische Instanz verzichtet wird. (5) Begriffe wie Intuition oder Inspiration werden nicht mehr als Beweis für die Einwirkung von höherstehenden Kräften oder Mächten betrachtet.

Kreativität ist in der Auffassung von Selz ein Prozeß, der biologisch erklärt werden kann. Das produktive Denken wird einer rationalistischen Analyse unterzogen.

Seine Studien hatten zum Gegenstand eine übersetzungstheoretisch relevante Domäne: den Denkverlauf und die inneren Vorgänge beim Problemlösen. Denken definiert er als teleologisches kognitives Handeln einer Person, daß ein Kontinuum reproduktiver und produktiver Denkoperationen zum Zweck einer zielgerichteten und geordneten (d.h. strategisch aufgebauten) Lösung bildet:

Anstelle einer probabilistischen oder zufälligen trial-and-error-Konzeption konnte Selz dagegen zeigen,daß der menschliche Problemlösungsprozeß nicht diffus (und damit umständlich und aufwendig), sondern spezifisch zielgerichtet und phasenstrukturiert, und somit also funktional und ökonomisch abläuft. Der Zielsetzung kommt eine weitaus wichtigere Funktion zu, als lediglich assoziativ erregten Vorstellungen die richtige auszuwählen. Vielmehr ist der gesamte Denkprozeß von vornherein zielgerichtet,und nicht durch Verstärkung und Hemmung allein erklärbar. (Hanke, 1991:187)

Die Gesamtaufgabe, die die (Problem-) Lösung verlangt ist bei Denkprozessen mehr als eine projizierte Unbekannte. Die Gesamtaufgabe enthält eine Zielvorstellung - die schematische Vorwegnahme der Lösung - und übt somit einen wichtigen Einfluß auf den Denkprozeß und die Wahl geeigneter Lösungsmittel aus. Für den Übersetzer ergibt sich die schematische Antizipation als Aufgabenbewußtsein einerseits aus der Interpretation des Originals und andererseits aus dem zielkulturell gerichteten Äquivalenzrahmen - Äquivalenzprofil - der das Angebot der möglicherweise adäquaten Elementen in der Zielsprache umfaßt. Die Lösung der Gesamtaufgabe als produktives Denken besteht im wesentlichen aus dem Erreichen des antizipatorisch aufgebauten Zielzustandes. Dieser Prozeß wird von Selz “Komplexergänzung” benannt und verläuft in der Form einer Ergänzung des Fehlenden:
Das Aufgabenbewußtsein verhält sich also zu dem zu aktualisierenden Wissenskomplex wie das Schema eines Komplexes zu dem vollständigen Komplex. (Selz, 1980: 41; Zitat nach Hanke, 1991:190. Alle Zitate aus Selz sind nach Hanke:1991)

Am Anfang jeder Problemlösungsoperation steht also die Spannung zwischen der unvollendeten Zielvorstellung und den Ergänzungsbemühungen des Problemlösers. Das Problemlösen selbst ist als lineare Kette von kognitiven Operationen darstellbar. Die Operationen können entweder kumulativ (a + b + c) geordnet werden, wenn das Gelingen einer Teiloperation die Bedingungen zur Durchführung einer weiteren Operation schafft, oder subsidiär (b nach dem Mißlingen von a), wenn das Mißlingen einer Operation das Vordringen einer alternativen Operation verlangt. Die Operationen fungieren dabei als Lösungsmethoden. Das Versagen einer (Teil-)Operationskette bei der Problemlösung macht den Neubeginn durch Aufbau einer Ersatzkette erforderlich. Beim Versagen aller verfügbaren Systemen von Teiloperationen kann die Problemlösung verschoben werden. Jedenfalls braucht man bei jedem Auffinden einer geeineten (Teil-)Operation eine Entscheidung über ihre Anwendung zu treffen, die mit einer sogenannten “Gütekontrolle” verbunden ist und die den Vergleich der Ergebnisse des Einsatzes der gefundenen Teiloperation mit dem erwünschten Handlungsziel darstellt. Die Lösungsschritte werden also durch eine permanente Rückkoppelung vom Ziel her gesteuert (siehe dazu Hanke, 1991:189).

Dieser Prozeß entspricht offensichtlich der Vorgangsweise des Übersetzers, der nach der Methode der “multiple stage translation” arbeitet (vgl. dazu Wills: 1988).

Die Teiloperationen, die eine Lösungskette bilden, können aufgrund von reproduktiven oder produktiven Denkprozessen verlaufen. Reproduktive Denkprozesse basieren auf der Aktualisierung von in der Erinnerung schon vorhandenen Wissensbeständen. Ihr Versagen wirkt als Auslösebedingung für produktive kognitive Operationen. Selz führt drei Hauptfälle des produktiven Denkens an: Mittelaktualisierung, Mittelabstraktion und zufallsbedingte Mittelabstraktion.

 

1. Fall: Die Mittelaktualisierung

Die Zuordnung von Ziel und Mittel beruht auf einer schon vor der konkreten Zielsetzung erfolgten Mittelanwendung. Es sind die Fälle der routinemäßig determinierten Mittelaktualisierung,in denen schon früher angewendete einsichtige oder uneinsichtige Lösungsmethoden von neuem aktualisiert werden. (Selz, 1992: 680; nach Hanke, 1991:192).

Der erste Hauptfall des Produktiven Denkens besteht also aus einer Aktualisierung von bereits ausgebildeten Lösungsmitteln, bzw. -operationen, die auf einen analogen Fall angewendet werden. Das Individuum unternimmt dabei eine Abstraktion früher erwerbten Handlungen und kombiniert ein bekanntes Lösungsmittel mit einer neuen Situation: “Die Hauptleistung liegt im Erwerb dieser Mittel,also vor ihrer Anwendung.“ (Hanke, 1991: 193). Die Mittelaktualisierung muß aber deshalb nicht unterschätz oder abgewertet werden. Sie bildet die grundlegende Operation, auf der sich kreative Leistungen aufbauen können.

Der Übersetzer verwendet mittelaktualisierende Transferprozeduren vor allem, wenn es um die Übersetzung von stark typologisierten Texten geht - meistens fachsprachliche Texte - bei denen die notwendigen Sachkenntnise bei dem Übersetzer gegeben sind, so daß er sich auf die adäquate Wiedergabe der texttypologischen Merkmale konzentrieren kann, die ihrerseits in der Zielsprache normative Geltung haben, und in der betreffenden sozialen Sprachgemeinschaft generalisiert sind.

 

2. Fall: Die Mittelabstraktion

Die Zuordnung von Ziel und Mittel beruht auf einer durch die konkrete Zielsetzung bedingten determinierten Mittelabstraktion. (Selz, 1992:681; nach idem, S.197).

Das Ziel ist in diesem zweiten Hauptfall gegeben und bekannt. Die routinemäßig aktualisierbaren Lösungsmittel sind aber nicht einsetzbar. Das Individuum kennt zwar nicht die Lösung, erinnert sich aber an einen Vorgang V, der früher zu dem Erfolg E1 führte.

Die Mittelabstraktion geschieht dabei durch die funktionelle Herauslösung des für E1 notwendigen Lösungsmittels V aus seiner ursprünglichen Problemsituation.V kann zum Lösungsmittel M des Hauptproblems werden, wenn er durch Mittelabstraktion für die Lösung der neuen Aufgabe als verwendbar eingestuft werden kann. Die Mittelabstraktion ist deshalb eine subsidiäre Operation, eine Lösungsalternative, die dann eingesetzt wird, wenn bereits bekannte und ausgebildete Lösungsmethoden versagen:

Das Neue entsteht hier im 2. Hauptfall (...) durch die neuartige Verwendung eines Mittels für ein Problem,für das eine neue Lösung gefunden wurde. (Hanke, 1991:198).

Selz unterscheidet drei Typen der Mittelabstraktion: reproduktive, zufallsbedingte und unmittelbare Mittelabstraktion. Im Fall der reproduktiven Mittelabstraktion ist es dem Individuum schon bekannt, daß ein Vorgang V einen Erfolg E herbeiführt, hat aber diesen Vorgang aber noch nicht zuvor ausgeführt. Durch Wiederholung kann diese Operation wegen der Bekanntheitsvoraussetzung zur Mittelaktualisierung werden.
Die unmittelbare Mittelabstraktion wird bei Hanke nur kurz erwähnt und wir erfahren lediglich, daß sich die Lösungsmethode strukturgesetzlich aus der gestellten Aufgabe selbst ergibt, z.B. bei technischen und geometrischen Problemen. Der Erfolg der Mittelabstraktion ist hier von der Erfahrung des Individuums abhängig.

 

3. Fall: Die zufallsbedingte Mittelabstraktion

Die Zuordnung von Ziel und Mittel beruht auf einer der konkreten Zielsetzung vorausgegangenen Abstraktion eines Wirkungszusammenhanges, nämlich des Verhältnises zwischen einem tatsächlichen Vorgang und einem durch ihn bewirkten unbeabsichtigten wertvollen Erfolg. (Selz, 1991:683; nach ebd., S. 200.)

Diese Operation bildet die Funktionsweise des schöpferischen Interesses des Menschen ab. Hier sind weder das Ziel, noch die adäquaten Lösungsmitteln gegeben.Wichtig ist auch, daß hier nicht mehr geordnete Lösungsoperationen zum Einsatz kommen, sondern der Operation vorangehende Wirkungszusammenhänge verwendet werden, die kreativ ausgewertet werden:

Der dritte Hauptfall der geordneten produktiven Geistestätigkeit unterscheidet sich insofern grundsätzlich von den beiden erstgenannten, als dort zunächst die Entdeckung bzw. Erkenntnis einer Zielsetzung erfolgt und dann die Suche nach Lösungsmethoden einsetzt, um das Ziel zu erreichen. Hier nun werden nicht mehr Lösungsmethoden sondern Wirkungszusammenhänge verwendet, die VOR der Zielsetzung auftreten und erst danach produktiv angewendet werden. (ebd., S. 101)

Hier bestimmen also die als Ausgangspunkt für spätere Lösungsmittel fungierenden zufällig entdeckten/beobachteten Wirkungszusammenhänge den antizipierten Entwurf der Zielsetzung. Das Individuum stellt die Hypothese auf, daß zufällig beobachtete Wirkungszusammenhänge die Basis von - durch Mittelabstraktion identifizierbaren - Lösungsmitteln einer bisher unbekannten bzw. zukünftigen Zielsetzung bilden können.

Die Zielsetzung entspringt der zufälligen Beobachtung, ist ihre “Schöpfung” und wird durch die Lösungsmethoden bestätigt, bzw. erfüllt. Sie ist nicht mehr ein i.e.S. zu lösendes Problem, ein Hindernis, sondern die selbstständige kreative Projektion des schöpferischen Individuums.

Als Beispiel nennt Selz das Verhältnis von Erlebnis und Dichtung. Das früher Erlebte bietet sich als Ausgangsbasis in Form von Wirkungszusammenhängen und wird im Schaffensprozeß mit Hilfe der Operationen der Mittelaktualisierung und der reproduktiven Mittelabstraktion verarbeitet. Hanke führt zusätzlich als anschauliches Beispiel eine Schilderung von Gabriel Garcia Marquez über die Entstehung eines seiner Bücher an:

Die erste Idee zu diesem Roman hatte ich in Paris, vor ca. 15 Jahren. Ich ging an einem Restaurant vorbei und sah ein Paar dort sitzen, Mann und Frau, beide schon sehr alt. In diesem Augenblick kam mir der Gedanke, daß die beiden wahrscheinlich allein seien, in ihrem hohen Alter, weil die Freunde schon längst tot waren. Das, dachte ich, könnte den Stoff für eine gute Erzählung bilden. So kam mir die Idee zur Liebe in den Zeiten der Cholera. Dann habe ich 15 Jahre lang Erfah-rungen gesammelt. Erst danach habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt. (1987: 17; nach ebd., S. 201, Anm. 39)

Von zentraler Bedeutung ist bei dieser Operation der Zufall, wodurch die Wirkungszusammenhänge - die Auslöser der kreativen Prozesse - identiffiziert werden. Der Zufall ist wiederum auf dreifacher Art aktiv und produziert:

• 1. “wertvolle Zusammenhänge”, die “unabhängig von einer schaffenden Tätigkeit entstehen”; z.B. physikalische Vorgänge deren ästhetische Wirkung ausgewertet wird:Regentropfen oder Lichtstrahlen als Stilmittel. Ein gutes Beispiel dafür ist das Gedicht Plumb von George Bacovia oder das Gedicht Liniºte von Lucian Blaga;

• 2. “wertvolle Wirkungszusammenhänge”, die “ursprünglich unbeabsichtigte Nebenwirkungen einer andersgearteten Tätigkeit darstellen”; z.B. die Nebenwirkungen der technischen Entwicklung am Anfang des 20. Jahrhunderts, die zur Ausbildung der futuristischen Bewegung in der Ästhetik der Moderne führten;

• 3. “wertvolle Wirkungszusammenhänge”, die “ursprünglich unbeabsichtigte Nebenwirkungen einer gleichgearteten Tätigkeit” bilden; z.B. die niederländische Landschaftsmalerei, die ursprünglich eine Hintergrundfunktion in historisch-religiösen Darstellungen erfüllte und die sich später zur selbstständigen künstlerischen Zielsetzung entwickelte (ebd., S. 202).

Es wird aus diesen Beispielen ersichtlich, daß die zufällig entdeckten Zusammenhänge nur nach ihrer Umfunktionierung - nach ihrer Loslösung von ihrer ursprünglichen Funktion - als Basis kreativer Prozesse dienen können. Nur wenn ihre traditionell sekundären, “unproduktiven”, Funktionsweisen akzentuiert werden, können sie die Grundlage für den kreativen Entwurf unausprobierter Zielsetzungen bilden. Die Kreativität des Übersetzers beim intertextuellen und -kulturellen Transfer wird bei der Aufstellung einer Zielaufgabe (innerhalb des von ihm aufgebauten Äquivalenzprofils der Übersetzung) von der in dem Original investierten Kreativität verlangt. Die kreative Suche des Übersetzers im Rahmen der Zielkultur wird dadurch nicht in ihrer Intensität beeinträchtigt.

Wenn es sich bei Selz um geordnete und zielgerichtete Denkoperationen handelt, dann liegt aber eine Schlußfolgerung nahe, nämlich, daß die drei Hauptfälle des produktiven Denkens (die Mittelaktualisierung, die Mittelabstraktion und die zufallsbedingte Mittelabstraktion) nichts anderes als psychische Formen von logischen Operationen sind. Genauer gesagt, geht es hier um die psychologische Analyse der drei Formen des Schließens, wie sie bei Problemlösungsaufgaben verwendet werden: Induktion, Deduktion und Abduktion, so wie sie von Charles S. Peirce definiert wurden.
 

 

INDUKTION     DEDUKTION     ABDUKTION
REGEL               REGEL                 REGEL
FALL                  FALL                   FALL
RESULTAT        RESULTAT          RESULTAT
                                                                     (Eco, 1985:67)


• :Propositionen, die bereits verifiziert sind.
• :Versuchsweise Propositionen, die im Argumentationsprozeß gefunden werden.
• :Die “Regel” ist mit dem “Schema der Zielvorstellung”von Selz vergleichbar.

Eine Deduktion ergibt sich immer notwendigerweise und ist mit einer mühelos verlaufenden Mittelaktualisierung vergleichbar. Die Induktion bezeichnet bei Peirce das Testen einer Theorie und das Beobachten der Korrelation Theorie-Fakten. Sie klassifiziert Vorhandenes und bildet damit die Grundlage von Mittelabstraktionsprozessen.
Die Abduktion ist bei Peirce die produktivste Methode der “Vernunftbildung (-gewinnung)” (Hanke, 1991:58). (6) Sie besteht aus dem Untersuchen von Fakten für deren Erklärung eine Hypothese entdeckt und aufgestellt werden muß. Die Überprüfung dieser Hypothese erfolgt durch Induktion und deduktive Kontrollen.Die Abduktion ist eine kühne kognitive Operation, die keine Gewißheit liefert, sondern legt nur nahe, wie etwas (gewesen) sein könnte (7). Sie ist also eine gezielte Problemlösung, die bei der zufallsbedingten Mittelabstraktion angewendet werden kann (8).
Damit erfolgt der Übergang von einer psychologischen Typologie zu einer logischen Einordnung. Den weiteren Schritt in Richtung Semiotik vollzieht Umberto Eco, denn es ist ein wichtiges Postulat seiner Semiotik, daß die Semiose als Produktion und Rezeption von Zeichen (und damit auch von Texten) eine abduktive Tätigkeit des Individuums voraussetzt. Er unterzieht die Kategorie der Abduktion einer weiteren Analyse und stellt eine eigene Typologie der Abduktionen auf (vgl. dazu Eco, 1985 und Eco, 1995).

1. Hypothese (überkodierte Abduktion). Sie liegt vor, “wenn das Gesetz (die Regel, u. Bemerkung) automatisch oder quasiautomatisch gegeben wird” (Eco, 1985:70). Der Schluß betrifft nur die Entscheidung, das Resultat als den Fall dieser Regel anzusehen. Dieser Prozeß ist nicht ganz automatisch, “weil man entscheiden muß, diese Regel mit diesem Resultat zu verbinden, und zwar durch die Vermittlung des Falles” (ebd., S. 70). Ein Beispiel dafür ist die (Wieder-)Erkennung der Bedeutung eines Wortes in einem gegebenen sprachlichen und außersprachlichen Kontext;

2. Unterkodierte Abduktion. Sie liegt vor, wenn die Regel aus einer Reihe sich bietender wahrscheinlicher Alternativen gewählt werden muß:

Die gewählte Regel kann in einem gegebenen Ko-Text die plausibelste sein,aber es ist nicht sicher, ob sie die korrekteste oder die einzig korrekte ist. Das heißt also, daß die Erklärung erwogen und weiterhin überprüft werden wird. (ebd., S. 71)

Wir sind der Meinung, daß die grundlegende Ausgangssituation bei jedem Übersetzen ein derartiges Alternativenangebot in der Zielsprache umfaßt, das bei der Wahl einer bestimmten übersetzerischen Lösung eine unterkodierte Abduktion verlangt. Die zielsprachliche ausgewählte Lösung bildet dabei die regelhafte Entsprechung eines Elementes oder eines Textsegmentes des Originals, weil sie innerhalb einer bestimmten Übersetzung als verbindlich gilt. Jede übersetzerische Lösung enthüllt ihre Vorläufigkeit und Revidierbarkeit nur im Vergleich zu den Übersetzungsvarianten desselben Originals; als Element einer isolierten Übersetzungsvariante fungiert sie aber als endgültige Form - als regelhafte Entsprechung - die der Überzeugung des Übersetzers entspringt.

3. Kreative Abduktion. Sie umfaßt die Fälle, bei denen die erklärende Regel “ex novo” erfunden werden muß. Als Beispiel führt Eco die kopernikanische Intuition des Heliozentrismus an:

Kopernikus empfand das ptolemäische System als unelegant, unharmonisch, wie ein Gemälde, auf dem der Maler alle Körperteile abbildet, ohne sie zu dem Ganzen eines Körpers zusammenzufügen. Dann entschied er, daß die Sonne im Zentrum des Universums sein müßte, weil die geschaffene Welt nur so eine bewundernswerte Symetrie aufweisen würde. Er stellte sich eine mögliche Welt vor, deren einzige Gewähr es war, gut strukturiert zu sein, von eleganter ‘Gestalt’. (ebd., S. 71)

Kreative Abduktionen werden z.B. bei der Interpretation von poetischen Texten eingesetzt.

Die abduktive Vorgangsweise beim Übersetzen erklärt viele Situationen, die zum Bereich des intuitiven übersetzerischen Verhaltens gerechnet werden.Wir werden versuchen, zu zeigen, daß spektakuläre übersetzerische Lösungen, die auf den theorieresistenten Begriff für Übersetzungsintuition zurückgeführt werden, auf einer Transferstrategie aufbauen, die aus sukzessiven Abduktionen besteht.

Es entspricht einer allgemeinen übersetzerischen Erfahrung, daß stilistisch (expressiv) markierte Textstellen das vorzügliche Betätigungsfeld für die Übersetzungsintuition bilden.Wir möchten deshalb die abduktive Transferstrategie durch die Wiedergabe eines Chiasmus illustrieren. Den Beispieltext haben wir aus Wilss (1988:139) entnommen. Es handelt sich um das Fragment eines journalistischen Textes aus dem englischen “Observer”:

The rise of terrorism on an international scale, of subversion as a respectable military weapon - (...) - and the scope of sensitive tehnical information, jealously guarded by the average defense ministeries, have all helped to create a state of paranoia and a paranoia of the state. (Hervorhebung W. Wilss).

Die Übersetzungsschwierigkeit bei der Nachbildung des Chiasmus besteht darin, daß im Deutschen ein Äquivalent zu “state” mit seiner stilistisch wirkungsvollen Doppeldeutigkeit fehlt. Im Deutschen muß zwischen “state” als “Zustand” und “state” als “Staat” differenziert werden.

Die Interpretation des Sinnes des AS-Textes bildet die erste abduktive Handlung des Übersetzers. Das sprachliche Material des AS-Textsegmentes ist das vorgefundene Resultat, daß erklärt, bzw. interpretiert werden muß. Die sich aus der AS-Textanalyse ergebende Interpration stellt dabei eine Hypothese des Übersetzers dar, die als erklärende “Regel” des vorgegebenen Textsegmentes (des Resultats) fungiert. Die AS-Interpretation informiert den Übersetzer, daß es sich um einen Text handelt, der über den Einfluß des internationalen Terrorismus auf das Leben in Großbritanien berichtet. Der Chiasmus veranschaulicht im Rahmen dieses Text-Themas, wie die Vertrauenskrise zwischen der Staatsmaschinerie und ihren sich ständig verfeinernden Abhörpraktiken einerseits und dem Mann auf der Straße und seinen dadurch gefährdeten Freiheiten andererseits wächst. Außer dieser inhaltlichen Interpretation ist für den Übersetzer natürlich auch die Analyse der syntaktischen und lexikalischen Konstitution des zu übersetzenden Chiasmus wichtig, obwohl gemäß des Primats der Funktionsäquivalenz Änderungen bei der zs Formulierung vorgenommen werden können, die die generelle Strukturformel eines Chiasmus nicht beeinträchtigen.
Wir haben am Anfang behauptet, daß die zs Textproduktion nicht direkt aus der as Textinterpretation ableitbar ist. Die Interpretation des Originals bildet die Ausgangsbasis für abduktive Formulierungsversuche des Übersetzers bei der zs Text-(re)produktion. Die Interpretationshypothese des AS-Textes - der Endpunkt des ersten Abduktionsprozesses - verwandelt sich damit, wenn es um die zs Textproduktion geht, in einen Komplex von Prämissen, die selbst nach Formulierungshypothesen suchen.Es wird eine neue Abduktion in Gang gestzt, in der die Entscheidung für eine bestimmte Form in der Zielsprache - gemäß der Überzeugung des Übersetzers - das Interpretationsresultat “regelt”, indem sie es sprachlich kristallisiert, bzw. ihm eine sprachliche Struktur verleiht.
Der Übersetzer könnte zum Beispiel eine wörtliche Übersetzung mit Hilfe einer überkodierten Abduktion versuchen, aber die deutsche Entsprechung vom englischen “state” - “Staat” - entbehrt der Doppeldeutigkeit, die für die Bildung eines Chiasmus notwendig ist. Hier braucht man eine unterkodierte Abduktion, um Formulierungsalternativen zu finden, die lexikalisch synonym sind und auch die syntaktischen Forderungen einer adäquaten Übersetzung erfüllen können.

Diesen Schwierigkeiten zum trotz, berichtet Wills, gab es in einer Gersprächsrunde mit erfahrenen Übersetzungspraktikern, auf Anhieb, folgende Lösung: “(all das hat dazu beigetragen), daß sich der herrschende Verfolgungswahn in einem Verfolgungswahn der Herrschenden spiegelt.”
Solche frappierende Einfälle befinden sich, laut Wilss, jenseits von jedem übersetzungsmethodischen Erklärungsversuch. Dieser Meinung können wir nicht zustimmen, wenn wir den Übersetzer als gezielt und abduktiv operierendes Individuum betrachten. Die Illusion der rein intuitiv gefundenen Entsprechungen in der Zielsprache beruht unserer Meinung nach auf der Stichhaltigkeit der Hypothesen der Transferentscheidungen des Übersetzers. Je stärker die Äquivalenzbeziehung zwischen zwei Texten oder Textsegmenten ist,desto stabiler wird der “Regelstatus” der Transferhypothese für den jeweiligen Text. Das erklärt auch die “natürliche” Wirkung, die “Selbstverständlichkeit” der erreichten zs Entsprechung. Je fester die Äquivalenzbeziehung ist, desto mehr Kreativität (abduktive Kühnheit) und Mühe wird von der Transfertätigkeit verlangt.

Der Transferprozeß umfaßt die ganze Bewegung des Übersetzers von der interpretativen Rekonstruktion des AS-Textes bis zu seiner Reproduktion in der Formulierung des ZS-Textes. Damit ergänzen wir die vorläufige Behauptung, die die kognitiven Operationen des Übersetzers als Zwischenetappe nach der Interpretation und vor der Textproduktion lokalisiert. Die as Textinterpretation bildet die kognitive Grundlage der Transferhandlungen, die zur Entstehung des ZS-Textes führen und keine direkte Ableitungsbasis. Die Interpretation ist selbst schon eine vorbereitende Transferhandlung. Die “black box” - als Standort kognitiver Transferentwürfe - ist deshalb nicht nur die kognitive Transferphase zwischen Interpretation und (Re-)Produktion. Sie ist ihnen übergeordnet und bestimmt als übergreifende Transferstrategie den ganzen Übersetzungsvorgang. Interpretation und (Re-) Produktion werden dadurch in die “black box” integriert, die von nun an keine “Phase” mehr bildet, sondern als übersetzerisches Handlungskontinuum fungiert. Sie konstituiert eine sukzessiv und versuchsweise aufgebaute Transferbrücke, die die Äquivalenzbeziehung herstellt und für ihre Bewertung verantwortlich ist.

Die Semiotik ist also imstande, eine Beschreibung der wichtigsten kognitiv bedingten Operationen zu liefern, die die Transferhandlung beim Übersetzen voraussetzt, und die ihrerseits zur Herstellung der erstrebten Äquivalenzbeziehung zwischen Original und Übersetzung führen kann.

Eine weitere wichtige Frage ist aber, ob die Semiotik auch ein Äquivalenzkriterium bieten kann. Betrachten wir dazu zunächst zwei bekannte übersetzungstheoretische Aussagen zu diesem Thema:

• 1. Jede Übersetzung stellt ein “Informationsangebot in einer Zielsprache und deren -kultur über ein Informationsangebot aus einer Ausgangssprache und deren -kultur” dar (Reiss/Vermeer, 1984, 76).

• 2. Äquivalenz wird durch die “unverfälschte Übermittlung der verstandenen Textaussage” erreicht (Stolze, 1982, 177).

Wir möchten diese Aussagen folgendermaßen umformulieren: Äquivalent übersetzen bedeutet, das Interpretationsangebot des Originaltextes in eine andere Kultur hinüberzuretten. Der Übersetzer versucht dementsprechend den Leser in der Zielkultur, in dieselbe Interpretationssituation zu versetzen, in der sich ein Leser in der Ausgangskultur befand.

Nun, die Semiotik verfügt über ein Konzept der Textinterpretation, das mit dieser übersetzungstheoretischen Perspektive kompatibel sein könnte. Es handelt sich um die Kategorie der intentio operis (vgl. dazu Eco, 1994 und Eco, 1995). Sie stellt eine neue, semiotische Definition des alten “hermeneutischen Zirkels” dar, die besagt, daß ein Text als Parameter für die Bewertung seiner Interpretationen fungiert. Der Text wird aber erst durch die Interpretation konstituiert und bildet das Resultat, an dem die Interpretation sich selbst in einem zirkulären Prozeß messen kann. Die intentio operis stellt damit eine Textstrategie dar, die zwischen der “unergründlichen Intention des Autors” und “dem unkontrollierbaren Driften” der Interpretationen des Lesers steht.

Die übersetzungstheoretische Anwendung des Begriffs der intentio operis hängt von den Antworten auf folgende Fragen ab: ob diese Kategorie als eine Konstante des Übersetzungsprozesses betrachtet werden kann, und ob sie nicht eventuell das alte Problem eines tertium comparationis in der Übersetzung wieder aufwirft.



Literatur:

 

1. De Beaugrande, Robert Alain / Dressler, Wolfgang 1981: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen: Niemeyer.

2. Eco, Umberto 1985, Semiotik und Philosophie der Sprache, München: Fink. Dt. Übersetzung von: Semiotica e filosofia del linguagio, 1984, Turin: Giulio Einaudi.

3. Eco, Umberto 1991, Einführung in die Semiotik, München: Fink. Dt. Übersetzung von: La struttura assente, 1968, Milano: Bompiani.

4. Eco,Umberto 1994, Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, München/ Wien: Carl Hanser Verlag. Titel der Originalausgabe: Interpretation and Overinterpretation, 1992, Cambridge: Cambridge University Press.

5. Eco, Umberto 1995, Die Grenzen der Interpretation, München: Deutscher Taschenbuchverlag. Dt Übersetzung von: I limiti dell`interpretazione, 1990, Mailand: Gruppo Editoriale Fabbri, Bompiani, Sonzogno, Etas S.p.A.

6. Hanke, Michael 1991, Schöpferische Zeichentätigkeit: ein wissenschaftlicher Beitrag zur Semiotik, Aachen: Alano/Rader-Publ.

7. Jakobson, Roman 1959: Linguistische Aspekte der Übersetzung. In: Wills, Wolfram (Hg.), 1981: Übersetzungswissenschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. (S. 189-198).

8. Nida, Eugene A. 1975, Das Wesen des Übersetzens. In: Wilss, Wolfram, a.a.O., S. 123-149.

9. Paepcke, Fritz 1971, Sprach-, text- und sachgemäßes Übersetzen. Ein Thesenentwurf. In: Wills, Wolfram, a.a.O., S. 112-122.

10. Paepcke, Fritz 1986, Textverstehen - Textübersetzen - Übersetzungskritik. In Snell-Hornby (Hg.), 1986, Übersetzungswissenschaft - Eine Neuorientierung, Tübingen: Francke. (117-133).

11. Peirce, Charles Sanders 1990, Semnificatie si actiune, Bucuresti: Humanitas.

12. Reiss, Katharina 1976, Texttyp und Übersetzungsmethode. Der operative Text. Kronberg/Ts: Skriptor.

13. Reiss, Katharina / Vermeer, Hans J. 1984, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen: Niemeyer.

14. Sebeok, Thomas A. / Umiker-Sebeok, Jean 1994, Din nou pe urmele lui Sherlock Holmes. Cluj: Echinox.

15. Stolze, Radegundis 1982, Grundlagen der Textübersetzung, Heidelberg: Groos.

16. Stolze Radegundis 1994, Übersetzungstheorien: Eine Einführung, Tübingen: Narr.

17. Wilss, Wolfram 1988, Kognition und Übersetzen: zu Theorie und Praxis der menschlichen und maschinellen Übersetzung, Tübingen: Niemeyer.

 


ANMERKUNGEN:

(1) Siehe zum Problem der Funktionskonstanz Reiss/ Vermeer (1984: S. 90f.) und Nord (1993: Kap. 1.1.3). Nord spricht in diesem Zusammenhang von einem “Subsidiaritätsprinzip”: “Die Hierarchie der Autorintentionen oder, falls diese nicht eruierbar sind, der möglichen Ausgangstextfunktionen, wird von oben nach unten daraufhin befragt, ob und inwieweit sie in der Zielkultur realisierbar sind. Und von oben nach unten müssen die realisierbaren Funktionen bei der Übersetzung (als Intentionen, da ja die tatsächliche Reaktion der Zielempfänger nicht vorhersehbar ist) respektiert werden, während die nichtrealisierbaren Funktionen durch nachgeordnete ersetzt werden, die dadurch einen höheren Rang erhalten.” (Nord, 1993: 19).

(2) Siehe dazu das Konzept des “Initiators” bei Nord (1993:19): ”Dieser gibt möglicherweise einen expliziten “Übersetzungsauftrag”, in dem er darlegt, für welchen Rezipientenkreis, zu welchem Zweck, für welche räumlichen und zeitlichen Bedingungen etc. er die Übersetzung braucht. Oder aber, und das ist wahrscheinlich (noch) die Regel, er gibt diesen Auftrag “implizit”, wenn die Bedingungen der Translationssituation (z.B. in einer Firma, in der immer wieder bestimmte Standardaufträge anfallen) die Angabe genauer Details als überflüssig erscheinen lassen.”

(3) Stolze zitiert bei der Definition des Intuitionsbegriffs F. Paepcke (1981a:3): “Intuition ist jenes Ahnungsvermögen, das aus der umfassenden Leibhaftigkeit des Menschen fortgesetzt neue Versuche und Einfälle herausspielt, kreative Verhaltensweisen, die immerfort neu überraschen,und exakte Phantasie in der Gleichförmigkeit der Regel.” (Stolze, 1982:166) Diese Definition beschreibt die Intuition als kreativer Versuch des menschlichen Denkvermögens (in Form einer “exakten Phantasie”) und ist, wie wir sehen werden, mit dem Begriff der logischen Abduktion in gewisser Weise vergleichbar.

(4) Siehe zum Streit zwischen dem “methodologischen” und dem “ontologischen” Strukturalismus das Buch von U. Eco: Einführung in die Semiotik, 1991 (1972).

(5) Die metaphysische Instanz ist z.B. im berühmten platonischen Dialog Ion aktiv, wo für die schöpferische Tätigkeit nicht der Mensch (der Dichter) verantwortlich ist, sondern der Gott aus ihm. Der Gott ist kreativ, der Mensch nur ein Instrument, ein Medium: “Die Kraft kommt von außen, übersteigt und überwältigt den Menschen, obwohl deren Präsenz in seinem Inneren angelegt ist.” (Hanke, 1991:97). Siehe dazu auch die eingehende Analyse von M. Hanke, 1991: Kap. IV und V.

(6) Die Abduktion repräsentiert: “Argumentul Originar”, ”singurul tip de argument care genereazã o idee nouã.” (Collected Papers, 2.97; Zitat nach Th.A. Sebeok/Jean Umiker-Sebeok, 1994:27).

(7) “Abducþia porneºte de la fapte, fãrã a avea, de la început, în vedere o anumitã teorie, deºi e motivatã de sentimentul cã o teorie e necesarã pentru a explica faptele surprinzãtoare. Inductia porneºte de la o ipotezã ce pare a se impune de la sine, fãrã a avea de la început în vedere o serie de fapte particulare, deºi nevoia de fapte se face simþitã pentru a sprijini teoria. Abducþia îºi propune sã ajungã la o teorie. Inducþia îºi propune sã ajungã la fapte. În cazul abducþiei examinarea faptelor sugereazã ipoteza. În cazul inducþiei studiul ipotezei sugereazã experimentele care scot la luminã chiar acele fapte care le-a sugerat ipoteza.” (Ch.S. Peirce, Collected Papers, 7.218; in Sebeok/Sebeok, 1994:41).

(8) “Diferitele elemente ale unei ipoteze se aflã în mintea noastrã înainte ca noi sã fim conºtienþi cã am formulat aceastã ipotezã, dar tocmai ideea de a pune laolaltã ceea ce nici nu visasem vreodatã înainte sã punem laolaltã este cea care face ca în mintea noastrã sã strãluceascã o nouã idee.” (Peirce, Collected Papers, 5.181; in Sebeok / Sebeok, 1994:26).

 

Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (GGR) - www.ggr.ro

Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 6. Jg., 1-2 (11-12) / 1997, S. 79-87

 

 

Coordonator sectiune: Madalina Marcu | Asistenti: Cristina Caramihai | Andreea Baranga

+ Asociatia Studentilor din Facultatea de Limbi Straine | Contact

 

Home | BAC/Teze | Biblioteca | Referate | Games | Horoscop | Muzica | Versuri | Limbi straine | DEX

Modele CV | Wallpaper | Download gratuit | JOB & CARIERA | Harti | Bancuri si perle | Jocuri Barbie

Iluzii optice | Romana | Geografie | Chimie | Biologie | Engleza | Psihologie | Economie | Istorie | Chat

 

Joburi Studenti JOB-Studenti.ro

Oportunitati si locuri de munca pentru studenti si tineri profesionisti - afla cele mai noi oferte de job!

Online StudentOnlineStudent.ro

Viata in campus: stiri, burse, cazari, cluburi, baluri ale bobocilor - afla totul despre viata in studentie!

Cariere si modele CVStudentCV.ro

Dezvoltare personala pentru tineri - investeste in tine si invata ponturi pentru succesul tau in cariera!

 

 > Contribuie la proiect - Trimite un articol scris de tine

Gazduit de eXtrem computers | Project Manager: Bogdan Gavrila (C)  

 

Toate Drepturile Rezervate - ScoalaOnline Romania