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Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (GGR) - www.ggr.ro

Zeitschrift der Germanisten Rumäniens (ZGR), 9. Jg., Heft 17-18 / 2000, S. 155-162

 

 

Die Entwicklung der deutschen Schriftsprache

vom 16. bis 18. Jahrhundert unter dem Einfluss der Konfessionen

 

Peter Wiesinger


 

Wer eine gängige Geschichte der deutschen Sprache, wie etwa jene von Fritz Tschirch, Wilhelm Schmidt oder Gerhart Wolff zur Hand nimmt,[1] findet für die neuzeitliche deutsche Sprachentwicklung stets ein klares Bild gezeichnet. Es sieht ungefähr folgendermaßen aus: Durch die Reformation gelangte vor allem Luthers Bibelübersetzung in alle deutschsprachigen Regionen der Mitte, des Nordens und des Südens. Da sie auf der ostmitteldeutschen meißnisch-obersächsischen Kanzleisprache basiert und sie schon Zeitgenossen wie 1532 der Schlesier Fabian Frangk als vorbildlich bezeichneten, wurde sie zur Grundlage der neuhochdeutschen Schriftsprache. Grammatiker und Poetologen des 16. und 17. Jhs. elaborierten diese Sprachform, und um die Mitte des 17. Jhs. lag eine allgemein verbindliche Form vor. Daher kann auch das jüngere Frühneuhochdeutsche als Zeit der Ausbildung der Schriftsprache zeitlich mit 1650 begrenzt werden. Als zeitgenössischer Zeuge für diese Auffassung mag etwa der norddeutsche Sprachforscher Justus Georg Schottel mit seinem Buch "Ausführliche Arbeit von der Teutschen HauptSprache" von 1663 dienen. Schottel sagt: "Weil die Hochdeutsche Mundart communis Germaniae Mercurius [die allgemeine Sprachform Deutschlands] ist / auch nunmehr eine durchgehende Kunstrichtigkeit darin hervorbricht .../ richten wir uns nunmehr in ganz Teutschland darnach".[2] Blickt man von der Gegenwart zurück, dann stimmt sowohl Schottels Beurteilung von 1663 als auch die Auffassung von Sprachhistorikern. Denn die sich im 16./17. Jh. auf ostmitteldeutscher meißnisch-obersächsischer Grund-lage von der Luthersprache her entwickelnde deutsche Schriftsprache gilt ja in allen deutschsprachigen Gebieten.

Geschichtlich gesehen handelt es sich dabei aber um ein einseitiges Bild. Denn dabei wird in teleologischer, also zielgerichteter Sicht nur ein einziger zeitgenössischer Entwicklungsstrang verfolgt, der sich schließlich durchgesetzt hat und damit allgemein verbindlich geworden ist. Betrachtet man jedoch die tatsächliche Gestaltung schriftsprachlicher Texte vom 16. bis 18. Jh. und beobachtet man das Verhalten von Grammatikern und Sprachpflegern, so entsteht ein mehrschichtiges Bild mit schriftsprachlicher Vielfalt und mehrgleisigen Wegen. Es gibt also in der schriftsprachlichen Entwicklung nicht nur, wie einmal gesagt wurde, einen "Weg", sondern auch "Umwege".[3] Mit der heutigen Erkenntnis, daß die Schriftsprache keine Einheitssprache ist, sondern in regionalen, zum Teil auch nationalen Varietäten mit regional charakteristischen Varianten auftritt,[4] werden diese "Umwege" interessant, weil in ihnen die Wurzeln der heutigen schriftsprachlichen Variabilität zu sehen sind.[5] Die Sprachgeschichtsforschung beginnt daher, die bislang gepflegte teleologische Ausrichtung allmählich aufzugeben und wendet sich einer regionalen Sprachgeschichtsforschung zu,[6] ohne dabei die Gesamtentwicklung aus den Augen zu verlieren.

Bezieht man die regionalen Entwicklungen ein, dann aber werden die Vorgänge komplexer und beginnen sich jene bislang absolut gesetzten Zeiteinschnitte wie 1650 für das Ende der frühneuhochdeutschen Zeit zu verschieben.[7] Besonders ist dies der Fall, wenn man den bislang ausgeblendeten oberdeutschen Raum, also den deutschsprachigen Süden von Süddeutschland, Österreich und der Schweiz miteinbezieht. Hier waren sowohl die geschichtlichen und kulturellen als auch die schriftsprachlichen Entwicklungen vom 16. bis 18. Jh. anders verlaufen als in der Mitte und im Norden. Die schriftsprachlichen Entwicklungen des Südens und da insbesondere in Österreich und in Bayern sollen daher im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stehen.

Das Auftreten Martin Luthers und mit ihm die Bewegung der Reformation brachte im 16. Jh. einen wesentlichen kulturellen Wandel, indem die Religion das gesamte Leben ergriff und bestimmte. Der Protestantismus breitete sich rasch über alle deutschen Gegenden aus. Schon um 1520 wurden Luthers Schriften sowie die Werke gleichgesinnter reformatorischer Theologen in der kaiserlichen Hauptstadt Wien nachgedruckt und verbreitet. Rasch setzte sich die neue Lehre durch und wurde vielerorten und besonders vom Adel aufgegriffen. Das war auch in Österreich weithin der Fall. Nur in Tirol geschah dies nicht. Dort verfielen zwar auch die religiösen Sitten, aber es entwickelten sich teilweise eigene Reformbewegungen wie jene der Hutterer im Ost- und Südtiroler Pustertal. König Ferdinand I., der von 1521-1564 durch 43 Jahre die Geschicke Österreichs lenkte und somit über ein Menschenleben jener Zeit hinaus regierte, war auf Grund seiner spanischen Herkunft zwar erzkatholisch, konnte aber die Übertritte zum Protestantismus und dessen Ausbreitung nicht verhindern. Er leitete jedoch 1552 mit der Berufung des Jesuiten Petrus Canisius die Gegenreformation ein. Im folgenden halben Jahrhundert gelang es, durch das Wirken der Jesuiten den größten Teil der Bevölkerung wieder zu katholisieren. Von alpinen Rückzugsgebieten im südlichen Oberösterreich, in der Obersteiermark und in Oberkärnten sowie im Fürsterzbistum Salzburg abgesehen, war der größte Teil der Bevölkerung zu Beginn des 17. Jhs. wieder katholisch, und auch der Adel folgte bald. Die ostmitteldeutsche Schriftsprache war bereits mit Luther an den Protestantismus gebunden. Daher setzte sie sich in Norddeutschland, wo sie die mittelniederdeutsche Schriftsprache ablöste, ebenso durch wie in der Mitte, wo Sachsen, Thüringen und Hessen den protestantischen Ausgangs- und Zentralraum bildeten. Was aber geschah im oberdeutschen Süden?

Bei den Habsburgern als dem österreichischen Herrschergeschlecht seit 1278 lag seit Albrecht II. 1438 und dann besonders bei dem über ein halbes Jahrhundert regierenden Friedrich III. die Kaiserwürde, die seither im österreichischen Hause Habsburg geradezu erblich wurde. Es war Kaiser Maximilian I., der Sohn Friedrichs III., der während seiner Regierungszeit von 1493-1519 sowohl zur Regierung der österreichischen Erbländer als auch als Kaiser des Reiches ein wohlorganisiertes Verwaltungs- und Kanzleiwesen einrichtete. Unter mehreren Kanzleien Maximilians war die wichtigste die Hofkanzlei, die für die Erbländer zuständig war.[8] Ihre Urkunden und Schriftstücke gelangten nicht nur in die österreichischen Erbländer, sondern auch in die süddeutschen Städte, mit denen Maximilian von seinem Herrschersitz in Innsbruck in Tirol aus wirtschaftlich und künstlerisch eng verbunden war. So konnte die relativ einheitliche Gestaltung der maximilianischen Kanzleisprache sich in Österreich und Bayern durchsetzen. Der schon genannte Schlesier Fabian Frangk bezeichnete daher neben Luthers Sprache 1532 die Kanzleisprache Kaiser Maximilians und die ihr folgende Druckersprache Hans Schonsbergers in Augsburg als weitere schriftsprachliche Vorbilder.[9] Wie verhalten sich nun diese empfohlenen Vorbilder zueinander: Luther auf der einen Seite und die kaiserliche Kanzleisprache Maximilians und der Augsburger Drucke auf der anderen Seite?

Hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklungen von der ersten Hälfte des 16. Jhs. bis zur Mitte des 17. Jhs. sprechen die Historiker vom "Zeitalter der Reformation und der Glaubenskämpfe".[10] Tatsächlich hat die Reformation und die katholische Gegnerschaft und schließlich der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 das gesamte deutsche Reich bewegt und betroffen. Das Ende 1648 mit den Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück, kurz der Westfälische Friede, hat die Ergebnisse von Reformation und Gegenreformation anerkannt und sanktioniert. Dies geschah nach dem Prinzip "cuius regio - eius religio", "wessen Herrschaftsgebiet  - dessen Religion", der Herrscher gab also für sein Territorium und seine Untertanen die Religion vor. So kam es zur Festigung der schon im 16. Jh. ausgebildeten konfessionellen Gebiete und zur Verstärkung kultureller Gegensätze im Gefolge der Konfessionen. Besonders deutlich ist dies im Süden und Osten. Bayern und die habsburgischen Gebiete von Österreich, Böhmen und Schlesien (das ja bis 1740 habsburgisch-österreichisch war) wurden durch die Gegenreformation wieder katholisch, während Mittel- und Norddeutschland, aber auch eine Reihe von süddeutschen Gebieten in Franken, Württemberg und Baden und der Großteil der Schweiz protestantisch verblieben. Der religiösen Verschiedenheit schließt sich die kulturelle an. Am auffälligsten ist dies im Baustil zu bemerken. Der katholische Süden und Osten entwickelte den Barockstil im Anschluß an den italienischen römischen Stil. Man kann den Barockstil als den Stil der Gegenreformation bezeichnen, der von der Idee getragen ist, den Menschen die Herrlichkeit des Himmels schon auf Erden zu vermitteln und der entsprechend auch in der Musik und im Theater mit Schauspiel und Oper die Sinne des Menschen anspricht. Demgegenüber verzichtet der protestantische Raum auf überschwengliche Kirchen- und Schloßbauten und pflegt asketisch-nüchterne Zurückhaltung und Einfachheit, wenngleich als Zeitstil auch im protestantischen Mittel- und Norddeutschland barocke Elemente an Bürgerhäusern und Schlössern aufgegriffen werden. Im kirchlichen Bereich aber bleiben dort größtenteils die mittelalterlichen romanischen und gotischen Kirchen erhalten und bekommen bestenfalls eine schlichte barocke Einrichtung, soferne nicht zeitgenössische, doch ebenfalls schlichte Neubauten erfolgen. Auch die Literatur und das im katholischen Raum von den Jesuiten als den Trägern der Gegenreformation getragene Bildungswesen entwickeln sich unterschiedlich. So kommt es dann besonders im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jhs. zu deutlichen kulturellen Unterschieden zwischen dem katholischen Süden und dem protestantischen Norden. Besonders die Frühaufklärung wirkt seit 1680 in der ersten Hälfte des 18. Jhs. im protestantischen Norden. Sie bringt dort großen kulturellen Fortschritt besonders auf den Gebieten der Wissenschaft und der Wirtschaft und vertieft dadurch die Kluft zum traditionell-konservativ verbleibenden katholischen Süden.

Diese Unterschiede betreffen auch die Schriftsprache. Die Entwicklungen im protestantischen Mittel- und Norddeutschland mit der Weiterentwicklung von Luthers meißnisch-obersächsischer Sprachform durch Grammatiker, Poetologen und Sprachgesellschaften, insbesondere durch die Mitglieder der "Fruchtbringenden Gesellschaft" seit 1617 wie Martin Opitz, Philipp Harsdörffer, Christian Gueintz, Justus Georg Schottel und Caspar Stiehler, ist bekannt und führt eben zur neuhochdeutschen Schriftsprache. Die ostmitteldeutsche meißnisch-obersächsische Sprachform wird in Mittel- und Norddeutschland im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jhs. zur Leitvarietät. Anders verlaufen jedoch die Dinge im oberdeutschen katholischen Süden von Bayern und Österreich, und sie wirken über die sogenannte "Pfaffenstraße" bis ins Rheinland, das sind die nördlichen oberdeutschen Bischofssitze von Bamberg, Würzburg und Mainz bis nach Köln. Hier wird das Bairisch-Oberdeutsche zur Leitvarietät, das in der Kanzleisprache Kaiser Maximilians seine am Beginn des 16. Jhs. weitverbreitete Grundlage hat. Wenn man bedenkt, daß das Bairische als ostoberdeutscher Sprachraum etwa ein Sechstel des gesamtdeutschen Sprachraums bildet und mit den weiteren nordoberdeutschen katholischen Gebieten der Süden über ein Viertel des deutschen Sprachraums ausmacht, dann ist es nicht zulässig, solch große Teile bei der Darstellung der Sprachentwicklung einfach beiseite zu schieben, ja auszublenden, weil die sich dort vollziehenden Sprachentwicklungen aus heutiger rückblickender Sicht vorübergehende Episode waren.

Was geschah nun schriftsprachlich im ostoberdeutschen Raum vom 16. bis 18. Jh.?

Mit dem Eindringen der Reformation nach Österreich schon seit 1520 kam auch ostmitteldeutsches reformatorisches Schrifttum ins Land. Man lernte also vor allem durch das zunehmende Druckwesen und damit die rasche und weite Verbreitung des Schrifttums auch sprachlich fremde ostmitteldeutsche Sprachformen kennen.[11] Es wäre durchaus wie auch in anderen Landschaften möglich gewesen, die neue Sprachform verbunden mit der neuen Religionsform aufzunehmen. Die geschah jedoch bis um 1550, wie die Drucke heimischer bayerisch-österreichischer Autoren zeigen, nicht. Grund dafür ist, daß die heimische Schreib- und Sprechtradition sehr fest verankert war und vor allem die oberschichtige Sprechtradition in Form der sogenannten "Herrensprache" in engem Bezug zur Graphemik der Schreibsprache stand. Die Übernahme der ostmitteldeutschen meißnisch-obersächsischen Graphemik und Morphologie hätte daher einen funktionierenden Bezug zwischen Schreibung und Aussprache zerbrochen. Freilich konnten sich die Buchdrucker den mitteldeutschen Einflüssen nicht ganz entziehen, wozu auch äußere Gründe kamen. In der kaiserlichen Hauptstadt Wien verbreitete sich das Druckwesen erst in der zweiten Hälfte des 16. Jhs., nachdem die erste Jahrhunderthälfte fast ausschließlich von nur einem Buchdrucker, nämlich Johann Singriener dem Älteren beherrscht wurde. In der Folgezeit kamen nicht nur die Buchdrucker aus dem ganzen Reich, sondern auch die allerdings nur wenig bekannten Setzer kamen auf ihren Wanderjahren als Gesellen von überall her und konnten schließlich ansässig werden. Das Druckerverhalten scheint so zu sein, daß zwar weitgehend die Graphemik der Vorlagen der Autoren beibehalten wurde, daß aber die Setzer, die zugleich auch Korrektoren waren, in die von ihnen gesetzten Texte zusätzlich eine Reihe von persönlichen Schreibgewohnheiten einbrachten. Diese aber waren ostmitteldeutsche Erscheinungen, wie sie in Mittel- und Norddeutschland üblich waren. Dazu kam, daß gerade in der kaiserlichen Hauptstadt auch Persönlichkeiten wie Prediger und Gelehrte aus dem ganzen Reich auftraten und ihre in anderer als der oberdeutschen Weise abgefaßten Schriften zum Druck brachten. Das ist z. B. schon in den in Wien 1535 gedruckten Predigten des Hofpredigers und nachmaligen Wiener Bischofs Friedrich Nausea bemerkbar. Er stammte aus dem fränkischen Nordbaden und hatte in Mitteldeutschland seine Ausbildung erhalten, um schließlich in Mainz zu wirken, ehe er dann ganz nach Wien kam. So schrieb er offenbar in mitteldeutscher Weise, und die Wiener Setzer behielten bei ihrer oberdeutschen orthographischen Anpassung seiner Predigten einiges Mitteldeutsches bei. Umgekehrt gab es auch protestantische Setzer, wie den in Wien von 1571 bis 1573 wirkenden Niederösterreicher Blasius Eber. Er druckte protestantisches Schrifttum und hielt sich auch in rein österreichischen Texten an das protestantische ostmitteldeutsche Vorbild. So kommt es, daß während der zweiten Hälfte des 16. Jhs. in von Druck zu Druck schwankendem Ausmaß einzelne ostmitteldeutsche Erscheinungen Fuß fassen. Da aber 1552 zur gleichen Zeit die Gegenreformation beginnt und diese auf genaue Abgrenzung des Katholischen vom Protestantischen achtet und die Jesuiten auch die Zensur einführen, bleibt es bei der grundlegenden oberdeutschen schriftsprachlichen Prägung mit nur einzelnen ostmitteldeutschen Einflüssen. Die Wirksamkeit des Protestantismus war also insgesamt zu kurz und die schriftsprachlichen Voraussetzungen zur Aufnahme der protestantischen ostmitteldeutschen meißnisch-obersächsischen Schrift-sprache Luthers zu gering, um zum völligen Aufgreifen und damit zum Ausgleich zu einer einheitlichen neuhochdeutschen Schrift-sprache zu führen. Als dann in der ersten Hälfte des 17. Jhs. die Gegenreformation voll griff und Bayern und Österreich wieder gänzlich katholisch waren, geschah die volle Durchsetzung der später dann als oberdeutsch bezeichneten Schriftsprache. Zudem feindeten die Jesuiten die ostmitteldeutsche Schriftsprache als Sprache des Protestantismus und damit als Sprache der Ketzer an. Damit war ein völliger Gegensatz von katholisch-oberdeutscher und protestantisch-mitteldeutsch/norddeutscher Schriftsprache gegeben und gleichzeitig die Konfessionalisierung der Schriftsprache vollzogen. Diese Unterschiedlichkeit begann sich dann in der zweiten Hälfte des 17. Jhs. zu lockern, indem progressiv eingestellte Österreicher Mitglieder von mittel- und norddeutschen Sprachgesellschaften wurden, mittel- und norddeutsches Schrifttum trotz jesuitischer Zensur in den Kreisen des Adels und des gehobenen Bürgertums bekannt wurde und Buchdrucker und Setzer als Bestimmer der Orthographie und Morphologie ebenfalls auf das Schriftbild Einfluß nahmen. Dadurch wurden gewisse sprachliche Unterschiede aufgebrochen, aber die grundsätzliche oberdeutsche Prägung und damit zwei Arten der Schriftsprache blieben bis in die Mitte des 18. Jhs. erhalten. Noch um 1770 wurden rund 20 wesentliche ostmitteldeutsch-oberdeutsche Sprachunterschiede genannt.[12] Um 1600 aber waren es mit über 40 noch mehr als doppelt soviele.

Charakteristische Kennzeichnen der oberdeutschen Schriftsprache sind die folgenden:              

1. Vokalismus

 a)   Umlautlosigkeit von u vor g, ck, r + Konsonant und von au vor g, b und m,

z. B. zuruck, Stuck, Bruck, drucken, Lug, lugen, Burger, Burgermaister, laugnen, glaubig, Glaubiger, versaumen. Diese Erscheinung bleibt bis 1750 erhalten.

 b)  Unterscheidung der Fortsetzungen von mhd. î und mhd. ei als <ei> : <ai>,

z. B. weit, Zeit : brait, laid. Zwar tritt Zusammenfall schon seit 1560 merkbar ein, aufgegeben wird die Unterscheidung aber erst ab 1630.

 c)   Unterscheidung der Fortsetzungen von mhd. Dehnungs-i - u und mhd. ie - uo und undeutlich auf Grund der Graphie bei ü üe,

z. B. lieben : gebliben, er fiel(e) : vil; Bueben : Stuben; guet, Fueß, Grueß : Güet(e), Füeß, grüeßen. Ab 1560 tritt öfters <ie> für mhd. Dehnungs-i und <u> für mhd. uo ein. Ab 1630 geht <ue> stark zurück, verbleibt aber vereinzelt bis 1730, während die Wiedergabe von mhd. Dehnungs-i schwankt. Zum Teil besteht bis um 1730 deutliche Trennung von mhd. ie, zum Teil fallen beide in <ie> zusammen.

 d)   Bewahrung von mhd. u/ü vor Nasalen gegenüber Senkung zu o/ö.

Hier verfährt bereits Luther unterschiedlich, indem er zunehmend die mitteldeutsche Senkung zu o/ö aufgreift und durchführt. Entsprechend schwankt auch das Oberdeutsche.  Ab 1560 schwinden sunst und sunder zugunsten von sonst, sonder, ab 1580 setzen sich Son, Sonn, König durch, um 1630 werden mügen und müglich aufgegeben. Für künnen tritt können schon um 1600 auf, aber das Präteritum und Partizip II bleiben als kundte, gekundt bis um 1730.

 2. Konsonantismus

a)  Das Bairische führte vor Geminaten Vokalkürzung von Längen und Diphthongen durch. Dadurch blieb die Doppelschreibung der Frikativkonsonanten erhalten, wenngleich wegen der Korrelation von Vokallänge + Konsonantenlenis und Vokalkürze + Konsonantenfortis innerhalb ein- und desselben Paradigmas Schreibschwankungen auftreten. Diese schon im älteren Frühneuhochdeutschen übliche Verdoppelung von Konsonanten ist keine Schreibunsitte, sondern phonologisch bedingt, wenn auch graphematisch nicht systematisch durchgeführt.

Solche reguläre Verdoppelungen gelten besonders für <ff> etwa in schlaffen, straffen, lauffen, werffen. Sie werden dann vielfach fälschlich ausgedehnt auf Schlaff, Lauff, auff, Lufft. Von hier aus erfolgt auch fälschliche Ausdehnung der Konsonantenverdoppelung besonders auf m, n, l : nemmen, Lanndt, vnndt, vill, zallen.

 b) Für k und ck kommt zunehmend kh und ckh auf.

Besonders im Mittelbairischen und in der Wiener Stadtkanzlei war k und ck statt älteren ch und kch schon in der zweiten Hälfte des 15. Jhs. dominant, und es setzte sich auch im alpinen südbairischen Raum durch. Merkwürdig ist nun, daß die Hofkanzlei Maximilians in Innsbruck zunächst auch nur k/ck schrieb, aber ab etwa 1505 zunehmend anfing kh/ckh zuschreiben. Diese Gewohnheit griff dann immer mehr um sich, zunächst im Westen und dann im Osten. Die Druckersprache machte davon nur geringen Gebrauch, zeigt aber teilweise kh/ckh bis um 1620, während es sich handschriftlich noch wesentlich länger hielt.

3. Morphologie

 a)  Das Abstraktsuffix bleibt bis 1750 us, erst um 1700 kommt vereinzelt -nis auf. Das ab 1680 gelegentlich begegnende -nüs dürfte wegen der mündlichen Umlautentrundung schriftliche Kompromißbildung zwischen -nus und -nis sein. Es heißt also Gleichnus, Bildnus, Gedächtnus

Auslautendes Flexiv -e beim Substantiv.

Oberdeutsch galt schon im älteren Frühneuhochdeutschen die e-Apokope. Dagegen bewahrte das Ostmitteldeutsche in der gesprochenen Sprache das ererbte -e. Schreibsprachlich hatte sich das Ostmitteldeutsche zwar im ausgehenden 15. Jh. weitgehend dem Oberdeutschen angeschlossen und die e-Apokope aufgegriffen, die jedoch Luther dann zunehmend wieder zugunsten des heimischen -e abbaute.      

Während in der oberdeutschen Schriftsprache bis 1750 der starke maskuline und neutrale Dativ sing. ohne -e verbleiben, z. B. an dem Tag, dem Kind, wird ansonsten -e in unterschiedlicher Weise allmählich aufgegriffen.

Als Kennzeichen von Nominativ und Akkusativ plur. die Tage, die Tiere, die Hände beginnt das ostmdt. -e ab 1550 einzudringen und nimmt zunächst bis um 1610 zu, um dann wieder auffällig zurückzugehen. Noch um 1730/50 fehlt in über mehr als 50% der Fälle das -e als Pluralkennzeichen. Anders ist dies bei den Feminina der mhd. starken ô-Deklination wie die Gabe, die Seele, die Sache. Hier wird -e als Genuskennzeichen allmählich ab der zweiten Hälfte des 16. Jhs. aufgenommen. Aber das ganze 17. Jh. bleibt das -e in der Minderzahl. Erst um 1730 wird es vermehrt eingeführt.

Umgekehrt ist auffällig, daß hyperkorrektes -e einerseits in der 1. und 3. Person der Präterita der starken Verben seit 1550 eintritt, z. B. er ware, er sahe, er nahme, und andererseits teilweise im Personalpronomen ihme und im Adverb nachdeme begegnet.

Es gibt nicht nur noch weitere Fälle mit und ohne -e, sondern auch noch zahlreiche weitere oberdeutsche Erscheinungen, auf die jedoch aus Zeitgründen nicht eingegangen werden kann.

Obwohl die oberdeutschen Eigenschaften gegenüber den ostmitteldeutschen, wie die Beispiele zeigen, seit 1550 allmählich zunehmen, also die Leitvarietät Ostmitteldeutsch ausgleichend auf das Oberdeutsche einwirkt, bleibt das Oberdeutsche als eigene Form der Schriftsprache in Österreich bis 1750 und in Bayern bis 1760 bestehen.

Es zeigt sich also, daß sich im 16. Jh. in Mittel- und Norddeutschland mit der Reformation das ostmitteldeutsche Meißnisch-Obersächsische Luthers durchsetzt und dort zur schriftsprachlichen Leitvarietät wird. Trotz des weithin erfolgten Aufgreifens der Reformation im oberdeutschen Süden bleibt dort aber die bairisch-oberdeutsche Kanzleisprache Kaiser Maximilians als Leitvarietät bestehen. Mit der Gegenreformation in Bayern und Österreich werden die beiden Leitvarietäten konfessionalisiert, indem das ostmitteldeutsche Meißnisch-Obersächsische zur Schriftsprache des Protestantismus in der Mitte und im Norden und das Bairisch-Oberdeutsche zur Schriftsprache des Katholizismus im Süden wird. Dennoch übt die ostmitteldeutsche Schriftsprache ab 1550 und zunehmend ab 1650 Einflüsse auf das Oberdeutsche aus. Erst um 1730 werden aufmerksamen Sprach- und Kulturbeobachtern deutliche sprachliche und kulturelle Unterschiede bewußt. So beklagt damals der süddeutsche Protestant Georg Lizel die vergleichsweise Rückständigkeit des katholischen Südens und seine literarische Armut im Vergleich zur Fortschrittlichkeit des protestantischen Nordens[13] und beginnt in Wien der Reichshofratsagent Johann Balthasar von Antesperg sich für Sprachbewußtsein und Sprachverbesserung einzusetzen.[14] Das Aufgreifen der im protestantischen Gebiet entwickelten Aufklärung durch Kaiserin Maria Theresia führt 1750 auch zur Sprachreform in Österreich.[15] Sie nimmt von Wien ihren Ausgang und braucht, da sie nicht leicht fällt,[16] bis zu ihrem vollen Durchdringen rund vier Jahrzehnte, nämlich die Regierungszeiten von Maria Theresia bis 1780 und ihres Sohnes und Nachfolgers Kaiser Josephs II. bis 1790. Aufgegriffen wird damals die mitteldeutsch/norddeutsch bestimmte Form der Schriftsprache, wie sie von Leipzig aus vom Poetologen und Sprachkritiker Johann Christoph Gottsched propagiert wird. Dabei bildet Gottscheds "Grundlegung einer deutschen Sprachkunst" von 1748 die Basis für Orthographie und Grammatik und die 4. Auflage seiner "Ausführlichen Redekunst" von 1752 die Grundlage für einfachen Satzbau und schlichten Stil. Über 200 Jahre getrennte sprachliche Wege zwischen Mittel- und Norddeutschland und dem oberdeutschen Süden, die der Konfessionsgegensatz von Protestantismus und Katholizismus bewirkt hat, werden mit der Sprachreform von 1750 in Österreich und 1760 in Bayern beendet.[17] Erst um diese Zeit endet aus oberdeutsch-regionaler Sicht das jüngere Frühneuhochdeutsche und kommt es zur Vereinheitlichung der Schriftsprache im gesamtdeutschen Raum.[18] Um die Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache in ihrer Gesamtheit zu erfassen, ist es also wichtig, auch die einzelnen Räume miteinzubeziehen und damit die regionale Sprachgeschichte. Die bisher wenig beachtete Konfessionalisierung der Schriftsprache vom 16. bis zur Mitte des 18. Jhs. ist dafür ein wichtiges, auch die Literatur jener Zeit betreffendes, nicht zu übergehendes Beispiel.[19]

 



 

[1] Tschirch, Fritz: Geschichte der deutschen Sprache II: Entwicklungen und Wandlungen der deutschen Sprachgestalt vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart. 3. Aufl. von Werner Besch, Berlin 1989 (Grundlagen der Germanistik 9); Schmidt, Wilhelm: Ge-schichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium. 7. Aufl. von Helmut Lang-ner, Stuttgart 1996. Wolff, Gerhart: Deutsche Sprach-geschichte, 4. Aufl., Stuttgart 1999 (UTB Taschenbücher 1581).

[2]  Vgl. Schottelius, Justus Georg: Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache. Hrsg. von Wolf-gang Hecht, Teil I, 2. Aufl., Tübingen 1995 (Deutsche Nachdrucke, Barock 11; Facsimile des Druckes von 1663), S. 174.

[3] Vgl. Mattheier, Klaus J.: Wege und Umwege zur neuhochdeutschen Schriftsprache, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 9 (1981), S. 274-307.

[4]  Vgl. u. a. Ammon, Ulrich: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin und New York 1995.

[5] Vgl. zu Österreich u. a. Wiesinger, Peter: Das österreichische Deutsch. Eine Varietät der deutschen Sprache, in: Germanistische Mitteilungen 43-44 (Brüssel 1996), S. 219-238 und 257-262 und Wiesinger, Peter: Das  Deutsche in Österreich, in: Helbig, Gerhard, u. a. (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Halbbd. 1, Berlin und New York 2001, S. 481-491.

[6] Vgl. dazu den Sammelband von Besch, Werner / Solms, Hans Joachim (Hrsg.): Regionale Sprachge-schichte. Berlin 1998 (Zeitschrift für deutsche Philologie 117, Sonderheft).

[7] Vgl. Wiesinger, Peter: Zur Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte aus regionaler Sicht, in: Besch, Werner (Hrsg.): Deutsche Sprachgeschichte – Grundlagen, Methoden, Perspektiven. Festschrift für Johannes Erben zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1990, S. 403-414.

[8] Zur Sprache der Kanzleien Kaiser Maximilians vgl. ausführlich Moser, Hans: Die Kanzlei Kaiser Maximilians I. Graphematik eines Schreibusus, 2 Bde, Innsbruck 1977 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germ. Reihe 5) und zusammenfassend Moser, Hans: Zur Kanzlei Kaiser Maximilians I.: Graphematik eines Schreibusus. In: Beiträge zur Ge-schichte der deutschen Sprache und Literatur 99 (Halle 1978), S. 32-56.

[9] Vgl. Frangk, Fabian: Ein Cantzley vnd Titelbüchlin. Orthographia Deutsch ... 1531, in: Müller, Johannes: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Gotha 1881, S. 92-110 (Nachdruck, hrsg. von  Monika Hager, Hildesheim 1969).

[10] Vgl. z. B. die Bände 8 und 9 im Gebhardt-Handbuch der Geschichte von Walther Peter Fuchs: Das Zeitalter der Reformation und von Ernst Walter Zeeden: Das Zeitalter der Glaubenskämpfe, Deutscher Taschenbuch Verlag München 1973.

[11] Vgl. Wiesinger, Peter: Zur oberdeutschen Schrift-sprache des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in Österreich unter dem Einfluß von Reformation und Gegenreformation, in: Hoffmann, Walter, u. a. (Hrsg.): Das Frühneuhochdeutsche als sprachgeschichtliche Epoche – Festschrift für Werner Besch zum 70. Geburtstag. Frankfurt am Main 1999, S. 241-273.

[12] Vgl. Wiesinger, Peter: Die sprachlichen Ver-hältnisse und der Weg zur allgemeinen deutschen Schriftsprache in Österreich im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Gardt, Andreas / Mattheier, Klaus J./ Reichmann, Oskar (Hrsg.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen – Gegenstände, Methoden, Theorien, Tübingen 1995  (Reihe  Germanistische  Lingui-stik 156), S. 319-367, S. 347ff.

[13]  Vgl .Wiesinger: Die sprachlichen Verhältnisse (Anm. 12), S. 321ff.

[14] Vgl Wiesinger, Peter: Die Anfänge der Sprachpflege und der deutschen Grammatik in Österreich im 18. Jahrhundert – Zu Johann Balthasar Antespergers „Kayserlicher deutscher Sprachtabelle“ von 1734, in: Glaser, Elvira / Schlaefer, Michael (Hrsg.): Grammatica ianua artium – Festschrift für Rolf Bergmann zum 60. Geburtstag. Heidelberg 1997, S. 337-355 und Wiesinger, Peter: Die deutsche Orthographie im Rahmen der beginnenden Sprachpflege in Österreich im 18. Jahrhundert – Zu Johann Balthasar Antespergers „Kayserlicher deutscher Sprachtabelle“ von 1734, in: K³añska, Maria / Wiesinger, Peter (Hrsg.): Vielfalt der Sprachen – Festschrift für Aleksander Szulc zum 75. Geburtstag. Wien 1999, S. 183-204.

[15]  Vgl. Wiesinger: Die sprachlichen Verhältnisse (Anm. 12).

[16] Vgl. Wiesinger, Peter:  Schwierigkeiten bei der Umsetzung der österreichischen Sprachreform im 18. Jahrhundert – Am Beispiel der „Christlichen Erinnerungen über die sonntäglichen Evangelien“ von Franz Borgia Tausch von 1765, in: Pümpel-Mader, Maria / Schönherr, Beatrix (Hrsg.): Sprache – Kultur – Ge-s-chichte. Sprachhistorische Studien zum Deutschen – Hans Moser zum 60. Geburtstag, Innsbruck 1999 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germ. Reihe 59), S. 207-224.

[17] Zu Bayern vgl. u. a. Reiffenstein, Ingo: „Oberdeutsch“ und „Hochdeutsch“ in Bayern im 18. Jahr-hundert. In: Gardt, Andreas / Mattheier, Klaus J. / Reichmann, Oskar (Hrsg.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen – Gegenstände, Methoden, Theorien,  Tübingen  1995  (Reihe Germanistische Lingui-stik 156), S. 307-317.

[18]  Vgl. Wiesinger: Zur Periodisierung (Anm. 7).

[19] Dieser Vortrag wurde auch 1999 auf der Tagung der Japanischen Gesellschaft für Germanistik in Tokio gehalten und erschien in den Studien des Instituts für Kultur der deutschsprachigen Länder 17, Tokio 1999, S. 1-15. Die vorliegende Fassung wurde aktualisiert.

 

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